
Heute steht uns eine markante Stelle bevor: Stad!
Stad ist der wohl heikelste Punkt auf dieser Reise, der umfahren werden muss. Das Internet ist voll von dramatischen Geschichten und Ereignissen, die sich dort ereignet haben müssen. – Im Grunde ist es nur eine Landzunge mit einem Felsvorsprung, der etwas exponiert in den Atlantik ragt. Aber exakt hier treffen unterschiedliche Wind- und Wasserströmungen aufeinander, was die berüchtigten ‘Kreuzseen’ auslöst. Dazu, erschwerend, bewirken die zerfurchten Felsformationen im Untergrund (unter der Wasseroberfläche), dass die Wasserströmungen unberechenbar werden und selbst grosse Schiffe kentern und absaufen lassen.
Eine der nordischen Sagen beschreibt, dass die Wikinger vor vielen hundert Jahren einmal einfach keinen Weg fanden, diesen Felsvorsprung segelnd oder rudernd zu umrunden. Und stattdessen ihre Boote über einen Berg trugen (!), um sie im Nachbarfjord wieder einzuwassern. Heute ist die norwegische Regierung daran, genau dort einen Tunnel zu bohren, damit Schiffe – insbesondere fahrplan-getaktete Touristenboote wie die Hurtigruten – gefahrlos diese Stelle passieren können. Dieser Tunnel wird rund 50 Meter hoch (bei einer Wassertiefe von 12 Metern), 27 Meter breit und knapp zwei Kilometer lang. Gemacht für richtig fette Boote also. (Schiffe über 200 m Länge haben keine Probleme rund um Stad. Tröstlich.)
Bevor einem vor all diesen dramatischen Geschichten schwindlig wird, gehen Lois und ich zum Hafenmeister, der mit seinen Jungs (Mitarbeitenden) in einem Kommandoraum die Meerengen überwacht. Hier erfahren wir, dass die Situation heute ruhig aussieht. Aber sie kann rasch ändern; zur Sicherheit sollten wir bei Malöy oder auf der Insel Söre Silda – also nach rund drei Stunden Fahrt – die Verantwortlichen fragen…
Wir fahren hinaus aus dieser urwüchsigen Inselwelt hier, hinaus in die offene See, und wieder hinein in die Sunds und durch die Wasserstrassen zwischen den Inseln. Aber irgendwie kann ich die Schönheiten der Natur nicht wirklich wahrnehmen, zu sehr bin ich fokussiert auf die bevorstehende Umfahrung, die ja heute ‘kein Problem’ sein sollte. – Malöy passieren wir ungefragt, weil ich mich bei Söre Silda erkundigen will (die Leute dort sind näher dran, denke ich). Aber dann, nachdem wir bei dieser Insel angelegt haben und durch das malerische Dorf marschieren, treffen wir keine einzige Seele. Nichts, niemand da, wie es scheint!
Also, zurück zur ArgoFram, einsteigen, los geht’s. – Ich fahre etwas gespannt hinaus, die Wellen nehmen zu, das Boot wird kräftig unterspült, wir schaukeln hoch und tief und von rascher Fahrt kann keine Rede sein in diesem Wellenbad. Meine Anspannung ist sehr hoch – bis ich zwischen den Wellenbergen einzelne Fischerboote sehe, etwas kleiner als meine ArgoFram, mit Freizeitfischern drauf, die da in aller Seelenruhe ihre Angeln auswerfen und einziehen… Wie bitte? Die sind hier draussen und gehen ihrer Freizeitbeschäftigung nach, in diesem Auf und Ab?! Und ich mache fast in die Hosen? Was ist denn da los?!
Tatsächlich realisiere ich jetzt, dass man sich auch zu viel mit einer einzigen problematischen Stelle auseinandersetzen kann. – Wenn sich diese Jungs hier draussen in ihren Nussschalen aus purer Freude am Fischen auf und ab wiegen lassen, dann kann es nicht brenzlig sein. Dann kann ich hier längst durchfahren. Habe ja mehr als genug Power unterm Hintern, und schwimmen tut meine Kiste bestens – also alles gut. Jetzt erst kann ich meine Schultern etwas absenken. Ja ich bekomme fast schon Freude an diesem Schaukeln.
Einverstanden, eine Motorenpanne wäre sehr unangenehm (denn dann würden wir bös an die Küste gespült), darum zieht es mich weiter hinaus als nötig wäre. Obwohl: meine ich wirklich, etwas mehr Zeit bis zum Aufklatschen gäbe mir die Möglichkeit, von Hand mit meinem einen Ruderblatt hier etwas ausrichten oder per Funk Hilfe anfordern zu können?
Ich fahre mit rund 30 km/h zwar nicht schnell, aber doch recht zügig… Mitschaukeln ist eine Variante, rasch durchkommen meine Wahl. – Was lerne ich? Ich lerne, dass ich selbst dann, wenn alle ‘Achtung’ schreien, nüchtern bleiben und die Dinge auf mich zukommen lassen kann, ohne mich schon in Alarmbereitschaft zu versetzen. Denn ich muss ja nicht raus in die Gefahr, wenn die Verhältnisse nicht gut sind; ich bin aus freien Stücken hier. Aber vielleicht gehört das zur Mythenbildung, die Dinge schon vorweg zu überhöhen.
Bisher bin ich erstaunlich verschont geblieben vor solchen Problem-Fixierungen. Im Bemühen, Stad heil zu passieren, haben mich die Geschichten aber doch etwas nachdenklich gemacht. Und ja, mit Respekt an solche Stellen heranzugehen schadet bestimmt nicht. Aber es muss nicht sein, dass ich mir schon am Morgen früh einen Kopf mache, wenn die Situation erst am Mittag brenzlig werden könnte.
OK, Stad ist überwunden, Abgeklärtheit ist gewonnen. Weiter geht’s, nun, nachdem sich die Wogen wieder geglättet haben, mit normaler Geschwindigkeit nach Stadlandet, dem kleinen Ort just hinter dieser Landzunge. – Der Hafen ist nett, aber überall lauern Steine, ich muss mit Umsicht einfahren. Möven nisten an den Hafengebäuden, krächzen und flattern (und brüten?). Dann suche ich eine freie Anlegestelle und sehe, wie Kinder im Wasser plantschen. Tatsächlich, da ist ein Mann (im Neoprenanzug) und eine Kinderschar um ihn herum (ebenfalls in Neoprenanzügen), die sich hier vergnügen, als ob wir im warmen Mittelmeer wären. Nicht ganz; die Wassertemperaturen sind frostig, es regnet (was sonst) und der Wind bläst. Und doch scheint hier Freude zu herrschen.
Wir kommen rasch in Kontakt, erfahren dass der Vater wieder zurück ist, nach fünf Wochen auf See, und alle freuen und vergnügen sich nun hier in diesem geschützten Hafen mit seinem kleinen Sandstrand. – Wir wechseln zu einem Gästesteg, aber in diesem Hafen gibt es nichts, keine Toiletten, keine Duschen, nur einen Stromanschluss an einem Hafengebäude, unter dessen kleines Vordach wir uns zurückziehen und das Nachtessen köcheln.
Lois sieht etwas mitgenommen aus. Auch sie hat Blut geschwitzt bei dieser Passage (wie mir jetzt auffällt – vorhin hat sie sich nichts anmerken lassen). Und der Regen nervt, alles ist nass, und wird nass bleiben. Aber die Familie, mit der wir vorhin Kontakt hatten, lädt sie ein, bei ihnen zuhause eine Dusche zu nehmen und sich etwas aufzuwärmen – wie nett.
So erfährt Lois noch einiges zum Leben in Stadlandet, und warum diese Familie hier ihr Glück gefunden hat. Derweil baue ich das Nachtlager auf, und fahre mit dem Velo etwas in der Gegend herum (das brauche ich jetzt). Anschliessend kalt abduschen genügt mir. – Später trinken wir noch einen heissen Tee beim Unterstand, reden über dieses Erlebnis, über die Fischer in ihren wellenschaukelnden Booten, und die Eindrücke die wir hatten, als wir um diesen mächtigen Felsvorsprung gefahren sind. Denn eines stimmt: Hier treffen unterschiedliche Naturgewalten aus verschiedenen Himmelsrichtungen spürbar aufeinander. Und die Durchreisenden haben nur einen Gedanken – wie kommen wir hier heil durch?!
Wahrhaftig, Stad ist eine besondere Stelle. Man riecht förmlich, dass an dieser Ecke die Elemente aus Nord und Süd aufeinanderprallen. Sehr eindrücklich! – Meine ArgoFram hat mich auch hier wohlbehalten hindurchgeführt. Also kein Grund, für mich, dieses Erlebnis zu mystifizieren.