
Nach der Morgendusche, dem Coronatest und dem Frühstück verabschiede ich mich beim Hafenmeister von Norderney. Und fahre vom Jacht- zum Fischereihafen. Gehe zu Fuss zur Tankstelle. Und fülle mit dem Tankwart den 300-Liter-Kanister im Anhänger seines Abschleppfahrzeugs. Und erfahre wiederholt, dass die Entwicklung auf Norderney ‘ungesund’ sei: 6’000 Menschen leben permanent auf dieser Insel, die über 60’000 Gäste täglich beherbergt. Und zusätzlich von den Besuchern, die mit der Fähre am Morgen hin und am Abend wieder zurückfahren (und oft mit dem eigenen Auto kommen), förmlich überrannt wird. Seit Corona noch mehr… Ist doch schön, sage ich, aber ein sorgenvoller Blick kommt hinüber; auch für die ‘Einheimischen’ wird das Leben hier bald unbezahlbar. Die eh schon überhöhten Liegenschafts- und Wohnungspreise von Sylt werden nun von Norderney förmlich gesprengt. Und vor allem ‘gehöre’ einem die Insel je länger desto weniger. – Verlustängste trotz vollen Taschen?
Dann geht’s wieder raus in die Nordsee, ‘aussenrum’ zur Holländischen Insel Vlieland. Es wird ein lustiges Wellenreiten, und ich spüre wie sich meine Psyche entwickelt: Zu Beginn, während der Jungfernfahrt, waren Wellen, die höher waren als der Schlauch meines Bootes, des Teufels, die ich möglichst gemieden habe; ich dachte, sie schaden dem Boot (und hoffte, durch die Transformation meiner Angst auf die Sorge um das Boot, der auf mich abzielenden Bedrohung zu entgehen). Dann, als ich besser mit dieser Angst umgehen konnte, dachte ich, dass dem Boot solche ‘Luftsprünge’ doch ganz guttun würden und es so zeigen kann, wozu es taugt (man erkenne die Sinn-Umkehrung). Damit lebte es sich schon viel sicherer, trotz garstigem Wetter. Und ich liess die ArgoFram durchs Wasser hüpfen… Die Worte machen den Unterschied. – Nachdem aber Martina wie ein Kind freudig jauchzte, als sie die ersten deftigen Wellen abbekam (dem Boot also fraglos auch das Unmögliche zutraute) und die ArgoFram hart aber unbeschadet aufs Wasser zurück klatschte, beginne ich darüber nachzudenken, ob mein Boot diese Sprünge womöglich sogar liebe… Und bezeichne diese Luftsprünge nun – welch wunderbare Autosuggestion – als Freudensprünge!
Mit Freudensprüngen geht es also Richtung Vlieland. Aber bei der Einfahrt durch zwei Inseln und sich dramatisch verringernder Wasserhöhe, durch und über die das Meer seine Wassermassen ins Wattenmeer schiebt, wird’s mir doch mulmig zumute: Plötzlich reite ich förmlich auf derart druckvollen meterhohen Wellen, dass die erste Reaktion die Reduktion des Tempos ist (wie beim Fahren mit dem 3,5 Tonnen Anhänger auf der Autobahn; wenn der zu schaukeln beginnt, gehe ich einfach weg vom Gaspedal). Aber hier wäre das gerade falsch! Wenn ich schon von den zirkulierenden Wassermassen wie ein Spielzeug umhergeschoben werde, kann ich nur versuchen entweder auf einem Wellenkamm mitzureiten, oder mit erhöhter Geschwindigkeit so durch die Wellenberge und -täler zu fahren, dass ich mein Boot immer sicher im Griff habe – dass ICH es steuern kann.
Ich kann ein Boot nur dann steuern, wenn ich mit dem Boot schneller bin als das Wasser, das weiss ich seitdem ich Weidling fahre. Aber den Rhein mit der Wucht der Nordsee bei Flut zu vergleichen ist wie ein Modellschiff auf dem Schiffliweiher zu steuern, und dann damit auf den Rhein zu gehen. – Je mehr ich mich als Steuermann begreife, desto mehr macht mir die ArgoFram Freude! Nun sehe ich, dass sie hält, was Marko mir versprochen hat. Und ich rufe ihn freudestrahlend an!
Das holländische Vlieland ist gegenüber dem deutschen Norderney irgendwie besser gewappnet beim Umgang mit Touristen. Der Hafen (die Hafenkultur) entpuppt sich als extrem familienfreundlich; die Stimmung ist derart gelöst und zuversichtlich, dass die Kinder nahezu alles machen können, was sie wollen, im Hafenbecken. Auch Erwachsene hüpfen vom Boot ins Wasser und geniessen den Sommer. Obwohl auch hier der Hafen voll ist und ich zufällig (nur mit einer ‘List’) einen Anlegeplatz gefunden habe: Ich sah einige Segelboote vor der etwas kniffligen Hafeneinfahrt – und reihte mich artig ein. Die Assistenten des Hafenmeisters sahen mich auf ihren wendigen kleinen Schlauchbooten und zeigten mir den Weg zu den Motorboot-Plätzen, wo sie mir sogar einen freien Anlegeplatz gesucht haben! Ungefragt, ob ich mich überhaupt angemeldet habe. Denn hätte ich mich per Funk angemeldet, ich hätte eine Absage erhalten (habe ich im Nachhinein erfahren). Aber nun war ich drin und froh darüber. Nach diesen all diesen ‘Freudensprüngen’.
Am Pier hilft man sich gegenseitig (auch, damit das eigene Boot beim Festmachen nicht beschädigt wird). Und so lerne ich rasch neue Menschen kennen; es geht nicht lange und ich werde gelöchert mit Fragen zum Boot. Dann entdecken die ersten die Web-Adresse auf den Motoren, schauen im Internet nach und die Gespräche vertiefen sich. Die wichtigen Antworten auf meine nie gestellten Fragen werden förmlich an mich herangetragen: Wohin ich als nächstes gehen könne, worauf ich dabei unbedingt achten muss, wie ich nun am besten weiterkomme… Ich habe keinerlei Erwartungen. Und werde jedes Mal reich beschenkt mit Informationen, nach denen ich lange hätte recherchieren müssen.
Auf Vlieland gibt es zwar eine Benzintankstelle, aber der Preis von 2 Euro 04 Cent scheint mir doch etwas überrissen, zumal ich wieder meine Kanister auffüllen und sie zum Boot tragen müsste. Auf den diversen holländischen Inseln (in Richtung England) gibt es nun aber mehrere Anbieter, also Auswahl. So beschliesse ich, auf einer Nachbarinsel zu tanken.
Auch Vlieland ist voll von Touristen; als ich mir am Abend einen Restaurantbesuch gönnen möchte, blitze ich überall ab mit der Bemerkung, sie seien ausgebucht. Nirgends liess sich auch nur ein Platz finden – wobei mich weniger diese Tatsache, als die stolz zur Schau gebrachte Haltung ratlos machte: Leicht ins Arrogante kippend, mit der die Inhaber ihren Triumph verkündeten. Kommt mir vor wie die Basler Hoteliers zu Zeiten der Uhren- und Schmuckmesse…
Am nächsten Tag miete ich ein Velo und fahre die Insel im weiten Bogen ab. Tut das gut, meine Blutzirkulation zu spüren. Endlich wieder. Ich hätte nie gedacht, dass mir eine Ausdauerleistung je einmal so gefallen könnte. Nun aber kämpfe ich lustvoll eine Stunde hart gegen den Wind, bei der Hinfahrt, und ernte auf der Rückfahrt durch ein Naturschutzgebiert den Rückenwind.
Mir fällt auf, dass diese Insel, die sich als Hort des Naturschutzes versteht und jedes Kaffirahmdeckeli seinen Passenden Kübel findet, viel grösser ist als auf jeder im Ort angeschlagenen Karte angegeben; alle Touristenkarten verdecken nämlich bewusst den grösseren Westteil dieser Insel: Am ‘Umkehrpunkt angekommen stelle ich fest, dass der verschleierte Teil der Insel vom Militär als Übungsplatz genutzt wird. Und die machen dort in den Dünen wohl alles andere als Sandkastenspiele – Weiterfahrt verboten; es wird gewarnt vor Schiessübungen und hochgehenden Sprengladungen. Alles umweltverträglich, versteht sich.
Auf der Rückfahrt schaute ich immer wieder über die hohe Düne an der Nordflanke der Insel… Was wohl die Nordsee treibt? – Was ich sah, sah bedrohlich aus; ein Sturmtief hat sich angekündigt, Beaufort 7, meterhohe Wellen und viel Dünung dazu. Weit draussen sehe ich Ölbohrplattformen, die den stürmenden Wassermassen ausgesetzt sind. Das lasse ich besser vorbeigehen, das muss ich mir nicht antun. Velofahren gegen den Wind genügt 😉