Was ich mich hier in Trabzon frage: lieber einige Tage an Ort eintauchen, und dafür grössere Distanzen auf einmal zurücklegen, als täglich weiterhüpfen? Vielleicht hängt das mit dem scharfen Kulturwechsel zusammen – Russland wurde mir auf seltsame Weise vertraut; die Begegnungen waren bereichernd, aber als Demokrat würde ich mich dort aufreiben. Nun, in der Türkei, steht die Welt gleich mehrfach Kopf: neben dem autoritären Beamten-Staat dominieren das Clanwesen, die Religion(en) und die Geschlechterfrage den Alltag. Ich möchte mich einleben, um meine Gegenüber besser zu verstehen (vorerst Männer; wo sind hier eigentlich die Frauen?) und um mich sozial-geschmeidiger zu bewegen. Zudem sind die Distanzen enorm: von Georgien bis Istanbul sind es weit über 1’000 km …

So entscheide ich mich, heute direkt nach Sinop an der ‘Nordspitze’ der Türkei zu fahren. 450 km am Stück. Neun Stunden … Ich trau’s mir zu. Und erlebe eine trübe Überraschung: Entlang der gesamten türkischen Küste bin ich mit ich Streifen von 50 bis 200 Metern Breite konfrontiert, in denen sich Unrat, Äste und Blattwerk sammelt. Ich versuche auf Sicht zwischen diesen Streifen zu navigieren, aber hin und wieder gerate ich hinein, muss die Motoren abschalten und die Propeller vom Geäst befreien. Nein, hier gefällt mir das Meer nicht. Überhaupt kommt mir das Schwarze Meer vor wie ein Sack (von weit oben betrachtet): Jeder Dreck bleibt drin; der Austausch mit dem Mittelmeer ist minimal. Darum sollte alles, was nicht organisch ist, rausgefischt, besser gar nicht eingelassen werden … Das Schwarze Meer verkommt zur Abfallmulde. Und die Anrainerstaaten scheinen nicht gewillt, dies zu ändern.

Etwa eine Stunde vor Sinop beginnt sich das Meer aufzubäumen, die Wellen peitschen gegen die ArgoFram. Ich schneide sie frontal, und spüre die Müdigkeit – die lange Konzentrationsdauer fordert ihren Tribut. Im neuen Hafen von Sinop bemerke ich, dass keine Schiffe darin vertaut sind … und erkenne, dass sich alle in den alten, kleineren Hafen zurückgezogen haben. Der neue Hafen ist ein reiner Schönwetterhafen, und der alte ist nun vollgestopft mit privaten Jachten, Fischerbooten und zweistöckigen Ausflugs- resp. Partybooten. Alle festgemachten Boote sind in zwei drei Reihen miteinander verbunden; heute geht bestimmt niemand mehr raus. Die kleineren Boote hängen hinter den grösseren – ich pirsche mich ganz nach vorne, lege seitlich an ein Party-Boot an und frage den Eigentümer, ob ich hier übernachten kann. Naizin, ein hemdsärmeliger Gastrounternehmer mit seinem etwa 30 m langen Schiff, sagt zu. Strom inbegriffen, ich kann mein Kabel an seiner Bord-Steckdose anschliessen!

Kaum an Land, nach über zehn Stunden auf See, suche ich den Hafenmeister auf (der allerdings nichts von mir wissen will). Dann folgt ein Rundgang durch das Hafengebiet – Sinop gefällt mir, sehr entspannt hier, und sehr überschaubar, ein Ferienort für türkische Landsleute, viele Rückkehrer aus Deutschland auch! So ergeben sich rasch Kontakte und gute Gespräche; seit Wochen spreche ich erstmals wieder Deutsch und die Zeit geht um. Irgendwann klettere ich über mehrere Boote zurück zur ArgoFram und falle erschöpft ins Bett.

Am nächsten Tag wandle ich auf den Spuren von Diogenes (er lebte im 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung), diesem nicht nur freigeistigen, sondern radikal kynischen Philosophen. Die Kyniker pflegten einen materiell bedürfnislosen und selbstgenügsamen Lebensstil – hatten jedoch höchste Ansprüche an das Leben und das Bewusstsein. (Diogenes bezeichnete sich selbst als ‘verrückt gewordener Sokrates’ und als Kosmopolit, als Weltbürger (!), der von hier nach Athen gezogen ist, um dort zu lehren … und um die Gemüter so sehr zu bewegen, dass Persönlichkeiten bis hin zu Alexander ihm die Aufwartung machten. Und von seiner Radikalität prompt kalt geduscht wurden!) – Hier in Sinop steht sein Denkmal. Und mir scheint, man schätzt ihn, anekdotisch – doch niemand möchte mit seinen Worten begossen oder an seine Spiegelungen erinnert werden. Zu aufrüttelnd sind seine Erkenntnisse und spitzen Bemerkungen.