
Aufbruch; wir nehmen nochmals eine warme Dusche, fragen beim Hafenmeister nach, um sicher zu gehen wegen der bevorstehenden Schleusendurchfahrt ins Binnengewässer (der heutige Mälarsee) zur Insel Björkö, und verabschieden uns. Bald erreichen wir die Schleuse, und wir stellen fest, dass die Informationen unseres Hafenmeisters leider nicht den Tatsachen entsprechen: Die Schleusung kostet was (nur für Ausländer) und wir erfahren, dass die nächste, etwas südlicher gelegene Schleuse zurück zum Meer, revidiert wird und darum geschlossen ist – was nichts anderes bedeutet, als dass wir wieder hierher zurückkehren und auf unserem Weg in den Süden einen riesigen Umweg in Kauf nehmen müssen. Uns also weniger Zeit zum Besuch von Birka zur Verfügung steht (denn bleiben und verweilen wollen wir bei dem Wetter eher nicht).
Birka – was ist das und warum möchte ich unbedingt hierher? – Birka war eine Siedlung, die vor rund 1’000 Jahren eine grosse Bedeutung als Handelsplatz haben musste. Konkret war sie ab ca. 790 n. Chr. DER nördliche Handelsplatz und DIE Adresse für alle, die via Ostsee in den Norden wollten.
Die Siedlung Birka beherbergte gegen eintausend Einwohner, was für damalige Verhältnisse in dieser Gegend eine grosse Siedlung darstellte, eine richtige Stadt gewissermassen. Ich bin im vergangenen Jahr bei meinem Besuch in Haithabu (Blog 009) auf Birka aufmerksam gemacht worden – ganz offensichtlich bestanden enge Handelsbeziehungen zwischen beiden Ortschaften und sie gehörten zum selben Kulturraum. Bekannt ist auch, dass ein Benediktinermönch und Missionar namens Ansgar von Hamburg nach Haithabu und weiter nach Birka gereist ist (genau genommen reiste er zweimal in seinem Leben hierhin), um das Evangelium zu verkünden und die Bevölkerung zum Glauben an einen einzigen Gott zu bewegen (mit eher bescheidenem Erfolg).
Ausgrabungen haben gezeigt, dass Gewürze sowie Silbermünzen aus dem arabischen Raum (!) in Birka gehandelt worden sind (die Münzen wurden hier geschmolzen und in Schmuck umgegossen). Auch der Handel von Sklaven war ein einträgliches Geschäft; gesunde Arbeitskräfte waren gefragt hier oben! – Geld war allerdings noch nicht bekannt oder nicht mehr wert als deren Silbergehalt, und der Handel vollzog sich im Tausch mit anderen Gütern, etwa mit Eisenerz oder Fellen aus der Region. Es gab im Grunde nur zwei Möglichkeiten, zu Vermögen zu kommen: tauschen oder rauben. Oder andersrum: zuerst rauben, und dann tauschen. (Man musste also tatkräftig oder trickreich sein, am besten beides – wir erinnern uns an die Ereignisse in Viveiro/Blog 034. Diesbezüglich hat sich bis heute also nicht viel geändert.)
Birka wird als ‘erste Stadt’ in Schweden bezeichnet – die Menschen lebten ausserhalb Birkas weit verstreut, waren Selbstversorger, lebten nahe am Wasser und mieden die unzugänglichen Wälder. Daher wurde für Transporte der Seeweg bevorzugt… Nicht vergessen dürfen wir, dass der Wasserstand heute rund fünf Meter tiefer liegt als damals, dass Birka also in einem Geflecht aus Fjorden direkt von der Ostsee aus erreichbar, und gleichzeitig von den Einflüssen der stürmischen See verschont war. (Dass nach dem Untergang Birkas das nahe gelegene Stockholm zur Hauptstadt Schwedens wurde, ist also kein Zufall.)
Unsere Begehung des ehemaligen Siedlungsgebietes verläuft unspektakulär; alles ist längst verfallen und im Erdreich aufgelöst. Das Leben hier ist in keiner Weise mit den Stadtstaaten der Antike zu vergleichen, die klimatisch komplett andere Bedingungen vorfanden und schon zweitausend Jahre früher Monumente, auch Wohnhäuser, ja ganze Städte aus Stein errichtet haben, und deren Zeugnisse heute noch sichtbar und zu bestaunen sind.
Das Museum von Birka ist hervorragend gemacht und zusammen mit den Nachbauten bietet es nachfühlbaren Einblick in das Leben von damals – ich ziehe es aber vor, auf dem Hügel der ehemaligen Festung zu verweilen, den Blick schweifen zu lassen, den Wind und die Regentropfen an mit vorbeiziehen zu lassen, die Luft tief einzuatmen, und zu versuchen den Tatendrang jener Menschen zu ergründen, die angesichts der doch eher ‘strengen’ Einflüsse der Natur alles tun mussten, wirklich alles, um sich selbst und ihren Liebsten ein gutes Leben zu sichern.
Doch nun gilt es wieder auf die ArgoFram zurückzukehren, nach Stockholm zurückzufahren, nochmals zu schleusen um in die Ostsee zu gelangen, und durch die Inselwelt nach Süden zu kurven. In Trosa machen wir fest und kochen uns ein einfaches Abendmahl. Mit Bildern im Kopf vom Leben damals, ohne fliessend Wasser, ohne Strom, ohne Zentralheizung, ohne Einkaufsladen, ohne zugluft- und wasserdichte Häuser, ohne Goretex-Kleidung, ohne Aluboote mit starken Aussenbordmotoren und ohne Kommunikationsmittel in der Hosentasche, ohne… schlafe ich bald ein. Und denke nur noch: auch unsere Vorfahren haben gelacht und geliebt und Feste gefeiert.