
Heute geht’s früh raus, viel zu früh, weil es noch immer dunkel ist… Aber ich möchte die idealen Verhältnisse nutzen, um weiterzukommen. Die Ausfahrt aus A Coruna ist gewaltig: zunächst am hypermodernen Doppelturm vorbei, dann am ältesten noch in Betrieb stehenden Leuchtturm der Welt – sehr eindrücklich, diese Lage. Eine geglückte Wahl, hier eine Siedlung anzulegen.
Hinaus geht es in die weite Bucht. Die Sonne erhebt sich; ich schaue zurück und geniesse die Wucht dieses aufgehenden Tages. Und mir fällt auf, wie wenig, wenn überhaupt, ich während dieser Reise zurückgeschaut habe!
Bald drehe ich meinen Kurs südwärts und passiere den westlichsten Punkt Spaniens, und damit den westlichsten Punkt Festlandeuropas: Cap Finisterre. Lange Zeit galt Cap Finisterre als der westlichste Punkt Europas überhaupt. Das haben schon die Römer festgestellt – aber wie konnten sie dies herausfinden? Wie konnten sie solche ‘Vermessungen’ vornehmen? (Heute wissen wir, dass ein Punkt in Irland noch etwas weiter westlich liegt; so weit kamen die Römer mit ihrem Macht- und Verwaltungsaparat aber nie. Und noch weiter draussen im Atlantik sind Island sowie die Azoren… Aber das Verständnis für den Raum im globalen Sinn muss vor 2’000 Jahren irgendwie vorhanden gewesen sein, um Cap Finisterre als westlichsten Punkt zu bestimmen. Wie das ‘berechnet’ wurde, darüber muss ich mich einmal schlau machen.)
Fertig mit diesen Gedanken – jetzt will ich in die weite Bucht hinter diesem Cap einbiegen und fahre bald schon in den Hafen von Finisterre ein. Es ist ein sympathisches Provinznest; im Hafen liegen nur Fischerei- und Privatbötchen, und da sehe ich auch schon die Tankstelle. Bin zeitlich gut dran; soll ich gleich weiterfahren? Das Meer meint’s gut mit mir (jetzt rede ich auch schon so).
Leider ist die Tankstelle ausser Betrieb… Es ist Sonntag. Aber nicht nur deswegen gibt’s kein Benzin, denn hier werden nur die Fischer bedient… Zum Glück sind da auch noch ein paar Anwohner, deren höchstes Gut es zu sein scheint, am Sonntagmorgen mal eben am Hafen vorbeizuschauen! Denn hier treffen sie sich, die Freunde, Abseits der Kirche, ohne ihre Frauen, die sich seit ihrer Kindheit kennen. Sie wollen alles über mich und die ArgoFram wissen, und helfen mir spontan. (Der Hafen ist, wo Neuigkeiten entstehen, und heute ist es wieder mal soweit.) Mit dem Taxi geht’s zur nächsten Tankstelle; bald habe ich alle fünf Kanister umgefüllt, es könnte weitergehen. Doch die Gespräche vertiefen sich, und zur gegenseitigen Überraschung macht einer von ihnen, der in Basel bei einem bekannten Bauunternehmen als Taucher arbeitet, gerade Heimurlaub – Dinge gibt’s!
Dann breche ich doch aus und auf, hinaus in den Atlantik – und erlebe nun erstmals diese wirklich laaang gezooogenen Wellen (Dünung!) mit einem Intervall von über 10 Sekunden. Eindrücklich! 70 % der Wasserberge sind unter drei Meter, 30 % sind höher. Aber die Höhe alleine fällt nicht ins Gewicht, weil das Intervall so lange ist (eigentliche Wellen, vom Wind verursacht und ‘auf’ der Dünung liegend, gibt es heute kaum, weil kein Wind weht). Die Fahrt fühlt sich darum eher wie auf einer lang gezogenen Achterbahn an, entsprechend halte ich das Tempo hoch – und laufe fast auf einem Riff auf. Sehe es sehr spät, resp. es kommt sehr schnell näher (bei meinem Tempo). Das heisst: Eigentlich sehe ich wenige hundert Meter vor mir nur eine lang gezogene Brandungswelle mit etwas Gischt, und wundere mich: so weit draussen im offenen Meer? Das ist doch sehr ungewöhnlich. Also Tempo zurück, umschalten auf manuelle Steuerung – und tatsächlich, da lauern einige sehr spitzig dreinschauende Felsen. Zum Glück ragen sie aus der Gischt heraus. Ein Kontrollblick auf den Plotter zeigt: Hätte ich nicht diese grosse Skalierung benutzt, sondern eine etwas detailliertere, kleinräumigere, ich hätte diese Gefahr weiträumig umfahren können. (Das täte ich im Grunde auch, wäre ich präzis der vorgegebenen Route gefolgt. Aber da mein Autopilot nicht wirklich funktioniert, ich letztendlich alles von Hand mache, kann bei einer Abweichung von wenigen Hundert Metern von der Ideallinie genau dies passieren – das zweite Mal übrigens; schon in Finnland zu Beginn meiner Jungfernfahrt bin ich knapp an einem Riff vorbeigeschrammt. Und meine Reise wäre, kaum begonnen, schon zu Ende gewesen.) Anfängerglück? Wiedermal!
Dann komme ich Baiona immer näher. Die Dünung geht zurück, doch gleichzeitig steigen die Wellen resp. sie brechen mit immer kürzerer Frequenz auf mich herein. Eine halbe Stunde Rüttelschüttel, und ich treffe in der malerischen Hafenbucht ein – welche der drei Marinas wähle ich?
Ich nehme die erstbeste, wieder ein Club Real… Aber OK, alles bestens hier, sehr professionell.
Städtchen erkunden, Mittagsschlaf, Baden im Meer, Nachtessen in einer Gasse – dies alles im Bewusstsein, dass ich morgen einen Ruhetag einlege! Wind wird aufziehen, und ich will die getragene Stimmung hier in Galizien noch etwas aufnehmen, will mich diesem Lebensrhythmus etwas hingeben. So tue ich am nächsten Morgen zunächst nicht viel; Wäsche waschen, aufräumen, putzen, Städtchenbummel, Essen beschaffen, Mittagsschlaf. Aber dann geht es mit dem Velo doch noch los, fahre um die ganze Bucht in die nächste Ortschaft und an unzähligen Stränden vorbei zu einem, an dem Surfbrettenthusiasten auf die Grosse Welle warten… Ich gehe schwimmen, mute mir sogar etwas zu, gehe für meine Verhältnisse weit raus – es fühlt sich herrlich an. Die Atmung gelingt von Anfang an, meine Angst (abzusaufen) kommt und geht, ohne mich zu beeindrucken oder mein Spiel mit dem Wasser zu ändern. Wird Wasser doch noch zu meinem Freund? Grossartig.
Auf dem Rückweg lege ich noch ein kurzes ‘Training’ ein, mache meine Sprungübungen und Liegestützen, und fahre bald weiter. Duschen – und auf in das vielstimmige ‘Nachtleben’, in eine der unzähligen Gassenbeizen zu einer köstlichen Paella.
Was kann ich zu Baiona sagen? Heute 13’000 Einwohner, aber im Sommer über 45’000! Vor ein paar Jahren lebten erst 4’000 Leute hier, permanent, aber es gab einen Wandel und viele zogen von Vigo hierher, weil es damals noch erschwinglich war – Bevölkerungsveränderung ohne Corona, diesmal.