
Frühstück in einem der spärlichen Kaffees, die schon früh öffnen – Kakaogetränk mit Süsskuchen und Curros, so machen’s alle hier (ausser, dass nur ich Kakao trinke). Diesmal darf ich sitzenbleiben und an meinem Blog schreiben… Wichtigste Beobachtung, auch jetzt wieder, nicht nur gestern Abend: Das Maskentragen ist zwar nicht mehr Pflicht, aber weiterhin integraler Bestandteil jedes Gesichts. So auch beim Betreten des Kaffees und Bestellen an der Theke. Aber sobald sie sitzen und zu schwatzen beginnen, verlieren die Gäste ihre gute Corona-Kinderstube und sind purlimunter, lachen sich zu, ereifern sich heftig, sind voll in ihrem Element – ohne Maske notabene. So wie Kinder im Sandkasten, wenn sie beim Spielen Mamas Benimmregeln vergessen und völlig im Jetzt aufgehen. – Lebhaft kommunizieren liegt ganz offensichtlich in der DNA eines jeden Spaniers, einer jeden Spanierin. Bis die Rechnung kommt, und alle brav in die neue Normalität zurückkehren.
Die Fahrt mit der ArgoFram verläuft ruhig und rasant gleichermassen, schwer zu beschreiben, denn die lang gedehnten ‘Wellen’ (Dünungshügel) im zehn bis 12 Sekunden Intervall sind furchteinflössend, aber sobald sich die erste Aufregung und innere Anspannung gelegt hat, wird die Fahrt höchst aufregend, ja richtig thrilling! – Wie auf einer ausgedehnten Achterbahn geht es hoch und nieder, und das Wasser zischt nur so vorbei.
Überhaupt geniesse ich dieses Fahren sehr; ich ‘flüchte’ nicht mehr vor dem drohenden Schlechtwetter wie noch vor kurzem, ich fahre nun permanent der Sonne entgegen. So fühlt es sich zumindest an; die geglückte Passage der Biskaya hat Wunder gewirkt: eine lange angestaute, ahnungsschwangere, aber unterschwellige Angst hat sich aufgelöst – es ging ja!
Nein, ich habe die Biskaya nicht ‘bezwungen’, da war kein Kampf – ich habe sie einfach traversiert. Und nun freue ich mich, hier im Nordwesten Spaniens von Ort zu Ort zu gleiten, das Wetter zu geniessen, die Begegnungen in mir aufzunehmen und den Moment zu nutzen. Weiter mit Zuversicht. (Klar denke ich daran, wie es sein könnte entlang der Westküste Spaniens und Portugals, ich bin ja mal mit dem Velo dort entlanggefahren und habe die heftigen Wasserbewegungen bei den steifen Winden gesehen… Aber jetzt verspüre ich mehr und mehr Zuversicht, dass ich auch dieses Wasser zu lesen und zu befahren lerne.)
Ankunft in A Coruna; schon von Weitem grüsst der mächtige Leuchtturm, den die Römer (!) vor rund zweitausend Jahren erbaut haben. (Den muss ich mir noch genauer ansehen…) Grossstadt, grosser, ausgedehnter Jachthafen, alles grosszügig angelegt und entsprechend weitläufig – eigentlich sind es mehrere Jachthäfen, ich entscheide mich für den erstbesten. Ich führe die üblichen Gespräche, muss aber auch das Velo reparieren, das das Achterbahnfahren (den Wellengang) nicht schadlos überstanden hat. Dann wird das Zelt aufgestellt – und ab geht’s nach Santiago di Compostela; mit dem eigenen Velo zum Bahnhof, zusammengeklappt im Zug, und in Santiago damit zur ‘Grabkirche’ Jakobs.
Ich fahre den Hügel hinauf und durch die Gassen, und überall begegne ich Schwärmen von Wanderern, Pilgern, jenen die sich vor einiger Zeit aufgemacht haben, den Jakobsweg zu begehen, und nun aus allen Himmelsrichtungen hierher finden – eindrücklich, diese Freude, diese Energie, die diese Menschen ausstrahlen – dieses Glücksempfinden, diese Selbstbestätigungseuphorie, die die Menschen hier mit sich herumtragen auf den letzten Metern vor dem Ziel ihrer Reise.
Auf dem Platz vor der Hauptkirche spielen sich ergreifende Szenen ab: Menschen, die sich in die Arme fallen, die niederknieen, oder die sich ermattet hinlegen und nur noch weinen vor Glück: geschafft, ich bin hier, nach Wochen steten wanderns – angekommen!
Keine Ahnung, mit welchen Wünschen und Hoffnungen (eigenen oder fremden) diese Menschen zu Hause aufgebrochen sind, um den Jakobsweg zu begehen. Keine Ahnung, welche Eigenleistung und Entbehrung sie auf sich genommen haben – wollten sie Gott näherkommen, seine Gunst erwirken? Oder sich selbst näherkommen, ihr eigenes Potenzial erkunden? Oder die Welt verstehen lernen und die Kraft des eigenen Tuns spüren? – Egal, jetzt sind sie hier, jetzt folgt die Entspannung. Die Erlösung?
Ob sie jetzt ahnen, dass ihr Leben weitergeht, dass bereits im nächsten Moment alles neu beginnt?
Und dennoch: unterwegs sein als Daseinsform? Greifen diese Menschen während ihres Pilgerwegs auf einen Zustand zurück, den wir alle kannten, als wir (als Menschheit) noch Nomaden waren? Haben sie ihr Glück gefunden, eben weil sie die Sesshaftigkeit temporär aufgegeben, das vertraute Heim einstweilen zurückgelassen und jeden Tag neue Begegnungen eingegangen sind?
Auch ich bin unterwegs – und fühle mich glücklich, gerade weil ich das Sesshafte aufgegeben und dem Unerwarteten die Türe geöffnet habe…
Ich verweile nicht lange, schon geht es zurück nach A Coruna, und vom Bahnhof aus mit dem Velo beim ‘alten’ Leuchtturm vorbei (der über die Jahrhunderte natürlich immer wieder ausgebessert und erneuert wurde) und ich staune, wie die Menschen vor 2’000 Jahren (und wohl auch schon früher) ihre Wegmarken gebaut haben. Und so anderen, nachfolgenden Reisenden halfen, ihren Weg resp. das Ziel zu finden.
Abends dann wieder im Hafen, treffe ich mich mit sechs Seglern aus der Schweiz. Alle frisch pensioniert. Erstmals ‘frei’ und weg, wie sie sagen… Sie kamen mit ihrem Segelboot wie ich quer über die Biskaya, waren aber etwas über drei Tage (zwei Nächte auf See) unterwegs, und fragen ganz direkt, ob ich nicht Angst gehabt hätte, so alleine, und dass dann die Motoren unterwegs ausfallen könnten…
Ehrlich gesagt bin ich etwas verwirrt über diese Frage. Erstens weil ich viel mehr Angst hätte, wie sie in einem Schaukelboot mehrere Tage auf dieser Route Wind und Wetter ausgeliefert zu sein (anstatt zügig voranzukommen), zweitens weil das die erste Frage ist, die ihnen ganz offensichtlich unter den Nägeln brennt (und nicht etwa wie/warum ich diese Fahrt unternommen habe), und drittens weil ich daraus heraushöre, dass meine Art zu reisen (alleine, in unserem Alter, soweit im Meer draussen) doch überhaupt nicht sicher sei.
Weil ich verwirrt bin, lache ich einfach heraus – aber das kommt nicht gut an. Und ich merke, dass diese Herren partout nicht begreifen, dass ich mich mit diesem Boot sicher(er) fühle. Und Ja, die Befürchtung, dass die Motoren ihren Dienst versagen, die reist immer mit. Unterschwellig. Darum packe ich immer genügend Wasser und auch mehr zu Essen ein als ich im besten Fall benötige. Aber stünde ich schon beim Start vor einem Berg aus Angst, ich würde wohl nicht ablegen.
Ich kann es nicht anders erklären: solange die ArgoFram schwimmt, so lange ist doch alles gut.