
Auch in Milford Haven werde ich schon früh am Morgen von Seglern, die wie ich an den schwimmenden Quais liegen, zu einem Tee (und einem Schwatz) eingeladen. Ich gehe gerne vorbei und erkenne mich selbst kaum wieder, wie locker und kommunikativ ich mich mittlerweile im sozialen Bereich bewege und mein Interesse zeige, auch wenn ich dasselbe zum x-ten Mal gefragt werde (und beantworte). Aber Obacht, denn ich staune wie schnell die Zeit vergeht; ich muss ja noch einkaufen, tanken, und die Schleusung um 13 Uhr erwischen – es gibt für uns Freizeitkapitäne nur drei Schleusungen pro Tag (gestern hatte ich beim Einlaufen schlicht Glück, dass ich mit ein paar Fischerbooten einlaufen konnte). Die Schleuse macht Sinn, schützt den Hafen vor den Gezeiten.
Ich hab’s geschafft, zeitlich, kann direkt vom Tanken in die Schleuse einfahren – Milford Haven ist übrigens die einzige Anlage an der Westseite Englands und Schottlands, wo ich im Hafen Benzin bekomme! Eine Anlage auf der Ostseite (Royal Quais Marina), eine Anlage auf der Westseite, nicht gerade üppig für ‘Great Britain’.
Erneut ist es Nachmittag geworden, bis ich losfahre, hinaus in die offene See. Ich fahre in einem Gebiet zwischen dem Bristol Channel und der Keltischen See zum südwestlichen Zipfel Englands, nach Cornwall. (Ich habe mir überlegt, ob ich nicht doch auf ein noch etwas westlicher liegendes, abgelegenes Häufchen von Inseln, die Isles of Scilly, übersetzen soll. Sie sind mir mehrfach empfohlen worden. Die aktuell etwas unklare Wetterentwicklung und die widersprüchlichen Angaben zu Versorgungsmöglichkeiten dort haben mich aber Richtung Newlyn steuern lassen; im Hinterkopf habe ich bereits die Überfahrt nach Frankreich sowie die Fahrt durch die Biskaya – ich sollte mich entspannen und wirklich keine Erwartungen aufkommen lassen).
Mit Blick auf den Kalender ist für mich heute ein spezieller Tag – es passt also perfekt ins Bild, was jetzt inmitten meiner Strecke passiert: Vor und bald über mir sehe ich einen riesigen Schwarm von aufgeregt sich ins Wasser stürzenden Vögeln… und tatsächlich scheint auch im Wasser selbst ein Festessen im Gange zu sein, denn beim Näherkommen sehe ich rund drei Dutzend Delphine, die wie wild hin und her und auf und ab schwimmen, auch immer wieder mal aus dem Wasser springen, und sich dabei den Bauch vollschlagen!
Ich halte an, beobachte, fahre etwas näher ran, und finde mich plötzlich mittendrin in diesem Gelage; ich komme aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Bei langsamer Fahrt begleite ich die über und unter Wasser wild gewordene Meute – die Vögel kümmern sich nicht um mich, haben nur Augen für die zu schnappenden Fische. Aber bei den Delphinen frage ich mich, ob sie wirklich ‘so süss’ sind und mit ihren Annäherungen mein Boot tatsächlich wohlwollend miteinbeziehen möchten, oder ob sie mich nicht eher als Eindringling empfinden und ganz einfach nur loshaben und verdrängen wollen.
Nein, ich mache ihnen die Beute nicht streitig. Aber Ja, ich treibe mich in ihren Jagdgründen herum. – Es ist so schwierig, tierisches Verhalten und die zu Grunde liegenden Motive überhaupt zu erkennen; ich möchte alle Tiere verstehen können, nicht ihr Verhalten interpretieren müssen!
Nach dieser ausgedehnten ‘aktiven Pause’ fahre ich weiter, um die Südwestspitze Englands, und erlebe beim Einbiegen in den Ärmelkanal einen brutal heftigen Strömungswechsel: Viel ‘Zug’ im Wasser und bis zu zwei Meter hohe Wellen obendrauf. Wobei das Eklige nicht die Wellenhöhe an sich ist (ich fahre sie schräg an), sondern das kurze Intervall mit denen Sie zu überwinden sind (ich schätze alle drei bis vier Sekunden). Jetzt geht’s nämlich nicht mehr mit Drüberfahren oder Durchschneiden, jetzt macht die ArgoFram beachtliche, ja brutale ‘Freudensprünge’!
Eine halbe Stunde vollste Konzentration (und eine wieder aufkeimende Angst) – völlig durchschwitzt gleite ich in den Hafen von Newlyn. Uff… Das kam unerwartet, hat mein ganzes inneres System in Sekundenbruchteilen umgekrempelt (von freudig entspannt zu im Grunde nicht genau wissend was ich tue – ein Zurück gab es nicht, wohin auch). Die ArgoFram ist agil und robust und macht Mut, aber dieses heftige Wellenbad brauche ich nicht noch einmal, sicher nicht während x Stunden hinüber nach Frankreich.
Es ist schon spät am Nachmittag, oder früh am Abend, je nachdem. Der Hafenmeister, der die Nachtschicht übernimmt, weist mich zu einem Platz, wo ich seitlich ein- und aussteigen kann. Dann erklärt er mir, wie die Abläufe hier funktionieren, wie ich in die Dusche komme, wo ich bezahlen muss, und wo es was zu essen gibt… Später gehe ich nochmals zu ihm, bitte ihn um seinen Rat, wie ich mein nächstes Etappenziel angehen sollte, und erfahre viel Grundsätzliches (aus seiner Sicht) über ‘praktische Navigation’: Den Wind beobachten, den Wind nutzen, aber nie dagegen anrennen.
Vermutlich kann er als Wind-Flüsterer auch das Wetter ‘lesen’ – er muss früher Fischer gewesen sein, bis vor etwa zehn Jahren (dann geschah etwas – ich frage nicht nach – und er ist noch heute dankbar dafür, diesen Job hier erhalten zu haben, was jeder sofort spürt der mit ihm in Kontakt kommt; sein Gang ist geprägt von massiven Einschränkungen, aber er kämpft dagegen an, lässt sich natürlich nichts anmerken). Wir reden noch lange, aber um es kurz zu machen: Obwohl die angekündigten Wellen nicht mehr so hoch sind, empfiehlt er mir dringend, morgen den Kanal nicht zu überqueren!
Ich folge diesem Rat; ein weiser Entscheid, ein wohltuender Entscheid – er lässt mich nicht nur ruhig schlafen, ich nehme mir diesen ‘geschenkten’ Tag mit dem Aufwachen richtiggehend heraus, ohne Struktur (!), nehme diesen neuen Tag für mich, für mein Dasein, für mein Fürmichsein.
Wie angenommen muss es draussen im Kanal weiterhin strub zu und hergehen. Wind hätte es genug… Segler kommen entnervt in den Hafen, auch ein gut 20 m langes Segelboot mit einer vielköpfigen Familie – was für eine Erfahrung für diese Kinder, wenn sie zusammen mit Vater und Mutter als Team alles geben (müssen), um den Hafen zu erreichen. Ich sehe: Die Eltern sind abgekämpft, doch die Kinder scheinen frohgemut, helfen aktiv mit, die Segel und alles Geschirr so aufzuräumen, dass man sich wieder wohl fühlt an Bord. Erst dann, nach etwa einer Stunde, gehen sie zum Hafenmeister. Stringente Disziplin, was für eine Lebensschule!
Offenbar haben sich die Hafenmeister beim Schichtwechsel über mich und meine Reise unterhalten… Der für diesen Tag Verantwortliche bietet mir ungefragt an, mich mit meinen Kanistern in seinem Auto zur einzigen Tankstelle (ausserhalb der Ortschaft) zu fahren, um genügend Treibstoff zu besorgen für mein Vorhaben, in einer mehrstündigen Fahrt an Brest vorbeizuziehen, um in einem kleinen Hafen weit ab der üblichen Orte in der Bretagne anzulanden: Ein weiterer, eher ‘politischer’ Entscheid, den ich getroffen habe, weil England und Frankreich derzeit nicht gut aufeinander zu sprechen sind – alles was nach offiziellem Durchsetzungseifer und beamteten Überzeugungstätern riecht, werde ich umgehen; ich will reisen, nicht mich in fremde Händel einmischen.
Es wird Nachmittag, ich bin nicht ‘getaktet’, ich geniesse die freie Zeit, ich geniesse die wärmende Sonne hier an Land, ich geniesse eine Tasse heisse Schokolade mit einem Stück eines feinen Kuchens in einem gerade entdeckten Kaffee – what a wonderful tea-time! Und ich entdecke dann noch dies und das in dieser Ortschaft, die sich neben der Fischerei auch dem Tourismus verschrieben hat und sich sehr einladend präsentiert. Ich öffne die Augen für Details, zum Beispiel für Wandbilder an einem Hafengebäude, die das Fischerleben darstellen. Atemberaubend!
Ich erhalte aber auch einen Crashkurs in Strömungs- und Windlehre für die bretonische Atlantikküste; das pensionierte französische Paar eines Nachbarbootes (das seit dem zehnten Altersjahr mit dem Segeln vertraut ist) hat mich eingeladen und zeigt mir stolz, wie sie für ihren geplanten Turn hinüber nach Frankreich den Kurs berechnen (um den bestmöglichen Zeitpunkt zu bestimmen, wann sie auslaufen sollten) und worauf auch ich mit meinem Boot achten muss (müsse), wann ich wo zu welchen Gezeitenbedingungen am besten durchfahre. Und Vorsicht walten lasse, zum Beispiel bei jenen beiden Stellen bei Brest, wo selbst die Schifffahrt zum Erliegen kommt, wenn Wind und Strömung stark gegenläufig sind. Und aktuell sieht es ganz danach aus, gemäss den diversen Wetter- und Gezeiten-Apps, die dieses Seglerpaar zur Entscheidungsfindung heranzieht. Das Wetter dort drüben wird wechselhaft bleiben, bis es in ein paar Tagen von Nordwesten her kommend ganz ordentlich toben wird. – Sie sind schon im Rentneralter und kennen diese Gegend wie ihre Westentasche… Warum, so frage ich, verbringen sie denn bei schönstem Sonnenschein Stunden hier drinnen vor den Bildschirmen, wo sie doch genau ‘wissen’ wie es kommt? Und wie haben sie es denn früher gemacht, vor 50 Jahren, als es diese technischen Errungenschaften noch nicht gab? – Helas, sagen sie, dann seien sie bei guten Bedingungen einfach losgefahren…
Am Abend treffe ich wieder den Hafenmeister, der die Nachtschicht macht. Und er erklärt mir nun im Detail, wie er die Wetterbedingungen beurteilt: Mit einer simplen Wind-App auf seinem Hany, die Meteo-Daten von verschiedenen relevanten Messstationen beizieht und sehr zuverlässige Prognosen liefert, die er anschliessend mit seinem Erfahrungswissen zu einem Gesamtbild ergänzt – für den morgigen Tag, sagt er, sollte ich nicht zu früh losgehen, weil auch das Meer seine Zeit brauche, bis die Wassermassen den ändernden Wind-Bedingungen folgen; die Gezeitenströme stellten für mein Boot mit dieser Antriebskraft kein wirkliches Problem dar (höchstens ein Fahrtechnisches, aber das muss ich alleine bewältigen, da könne er mir nicht helfen). Es gäbe morgen Nachmittag eine Flaute, meint er, dann käme ich gut durch, bevor das Wetter wirklich ins Schlechte kippe; ich benötige für meine rund 300 km höchstens sechs Stunden, um ans Ziel zu kommen. Er müsse dabei umdenken, sagt er (und tut es auch); so rasch auf dem Wasser unterwegs zu sein sei für ihn nicht wirklich vorstellbar. – Ehrliche Worte; sie helfen mir sehr. So sehr, dass ich die geschilderte Wetterentwicklung auch für meine weitere Strecke zu antizipieren beginne und mein Kopf bereits sehr konkret an der Durchquerung der Biskaya ‘arbeitet’.
Ich gehe entspannt zurück zum Boot.
Auf dem Weg zur ArgoFram komme ich bei Fischern vorbei. Die einen sind gerade zurückgekommen und laden ihren Fang aus, sichtlich stolz, heute ordentlich verdient zu haben. Andere bereiten sich akribisch vor, bevor sie diese Nacht noch auslaufen, Wellengang hin oder her (Fischerboote sind träge; sie ‘springen’ nicht, sie schaukeln mit dem Seegang – es muss einem gegeben sein hier mitzutun). Ich schaue diesen fleissigen, wirklich hart schuftenden Leuten zu; alte, junge, und nicht wenige ‘schräge Vögel’… Ohne sie würde wohl vieles nicht so geschmiert laufen, ohne sie würde eigentlich überhaupt nichts laufen! – Sie geben alles, gehen auf in ihrem erschöpfenden Tun, schinden sich, um sich zu spüren, voll im Hier und Jetzt, packen zu, heben hoch, wuchten rüber, schleppen an – und später noch ein Bier, oder zwei…
Und dann, so denke ich in die Zukunft, wenn diese Art Fischfang eingestellt wird, weil nicht mehr rentabel, wenn die Industrie sich selber immer mehr automatisiert, und keine Arbeitskräfte, also keine menschlichen Maschinen mehr benötigt, und wenn sogar in den Armeen dieser Welt bei Kriegen immer mehr auf Knopfdruck entschieden wird, statt im direkten Kampf auf den Gegner einzudreschen (oder wir daran sind, Kriege gänzlich abzuschaffen), wo sollen all diese ‘schrägen Vögel’ hin?
Es fällt mir allerdings auch ein Paar auf, das wenig mit dem äusserlich rauen Schlag hier gemein hat: Ich erfahre, dass Sie nicht nur wegen ihrer Einstellung und ihrer zupackenden Art, sondern auch wegen ihrem Aussehen von allen hier (nicht nur im Hafen) bewundert, und Er entsprechend benieden wird… Die beiden haben ihr eigenes Boot und zwei Mitarbeiter; sie gehen als Kleinunternehmer unter hohen Risiken ihrer Arbeit nach, um uns tagtäglich mit wertvollen Proteinen zu versorgen. Bald laufen sie aus; sie sind an den letzten Vorbereitungen, füllen gerade das Eis in die Bunker – der nächste Fang, möge er kommen, will gut gekühlt sein!
Das Fischerdasein darf nicht unterschätzt werden; ich habe vor Jahren in Island modernste Fangflotten, eigentliche schwimmende Fischfabriken mit dutzenden Mitarbeitenden auf jedem Schiff gesehen, die zwei Wochen auf See sind, satellitengesteuerte Hightech-Maschinen mit riesigen Schleppnetzen. Was ich hier in Grossbritannien angetroffen habe, ist damit in keiner Weise vergleichbar; hier zählt Handarbeit (ohne das bewerten zu wollen; es hängt ja auch mit der Art der Fische zusammen, die gefangen werden). – Wir, die wir Fische im Discounter oder in einem Schweizer ‘Fachgeschäft’ einkaufen, haben – sorry – keine Ahnung. Ich sehe je länger desto mehr hinter die Kulissen dieser Fischerei-Handwerker: Unmögliche Arbeitszeiten (Wind- und Gezeitenabhängig), unsichere Arbeitsverhältnisse (kommen wir auch wieder zurück?), unberechenbare Markt- und Preisverhältnisse (wie viel wird für den Fang nach der Rückkehr bei der Auktion gelöst?), all das müssen diese klein- und mittelgrossen Unternehmen aushalten. Tough!
Vielerorts stehen Gedenktafeln oder Mahnmale, oft belegt mit frischen Blumen und ergänzt mit Fotos sowie persönlichen Erinnerungsstücken – sie zeigen eindrücklich, wie die hiesige Gesellschaft nach wie vor von der Fischerei geprägt ist. Darum wundert mich nicht, dass viele im Tourismus eine lohnendere, zumindest besser abschätzbare Aufgabe finden.