Der Hafenmeister ist vorbeigekommen, wie versprochen, und hat mir die Gezeiten- und Strömungstabellen gebracht, und mit diesem Wissen habe ich bei den Gesprächen mit den Seglern im Hafen rasch gemerkt, dass wir gänzlich anders unterwegs sind. – Die Segler nehmen sich nicht aus Jux und Tollerei mehr Zeit, nein, sie müssen sich systembedingt ganz einfach viel mehr Zeit nehmen! Nicht nur weil sie anders, sagen wir ‘langsamer’ unterwegs sind, sondern weil sie selbst mit ihren (Not-)Motoren nicht kreuz und quer fahren können, wohin und wie sie wollen. Jene, die ich hier im nördlichsten Zipfel Schottlands antreffe, haben ihre Boote vollgestopft mit Elektronik; zwei bis vier Wettervorhersageprogramme laufen parallel… Sie Planen ständig, und entscheiden sich, wenn auf drei-vier Tage hinaus alles stimmt. Und haben neben einem Heidenrespekt vor Wetterkapriolen eine fast schon irritierende Geduld.

Ich hingegen will mir Land und Leute ansehen, und ich will weiterfahren, wenn ich ‘genug’ aufgenommen habe und es für mich für als richtig empfinde – mit dem Nachteil, zuweilen vom drohenden Schlechtwetter getrieben immer irgendwie auf dem Sprung zu sein… Nach dem Studium der Tabellen und der Wetterkarte in Stromness ist beispielsweise klar, dass die Bedingungen für mich am frühen Nachmittag ideal sind, um den Pentland Firth von Nord nach Süd zu passieren; die Tide läuft aus, die Gezeitenströme ändern sich nur langsam, der Wind ist weiterhin vernachlässigbar (was die Segler fast verzweifeln lässt und letztlich blockiert). Gleichzeitig ist absehbar, dass ich heute und für mindestens eine Woche nicht nordwestlich um Schottland herumfahren kann, denn erstens gibt es auf den nächsten paar hundert Kilometern keine Infrastruktur, keinen Hafen, vor allem kein Benzin, nur dem Atlantik ausgesetzte Steilküsten, und zweitens droht ein Unwetter vom Atlantik herkommend, vor dem mich selbst die Äusseren Hebriden nicht wirklich schützen. – Während die Segler weiter warten müssen, könnte ich heute Nachmittag mit meiner ArgoFram noch rasch durch das für mich günstige Strömungs- und Wind-Zeitfenster hindurch schlüpfen.

Also muss ich rasch entscheiden: Ich miete ein Velo, besuche mein heiss ersehntes Skara Brae, eine vor 150 Jahren freigelegte Siedlung aus dem Neolithikum, irgendwann vor rund fünftausend Jahren für einige Jahrhunderte bewohnt, steinalt also. Und sehr eindrücklich zu sehen, wie unsere Vor-Vor-Vorfahren ideenreich sich ihr besseres Leben in die eigenen Hände genommen haben. Und ich nehme mir vor, nach meiner Rückkehr während des kurzen Zeitfensters nach Wick zu fahren, zurück nach Schottland. Aber anstatt um die nordwestlichen Klippen herum nach Irland zu gelangen, werde ich Schottland beim Great Glen (dem Caledonian Canal) durchqueren. Nicht besonders sexy, aber so weit nördlich bin ich um diese Jahreszeit sehr exponiert – ich habe noch eine weite Strecke vor mir, muss mich nach Irland und wieder südwärts orientieren, und bin in ein-zwei Wochen doch erst in der Bretagne… Also, nicht zu viel planen, los geht’s: Auf mit dem Zweirad über das hügelige ‘Mainland’ nach Skara Brae! – Eine Stunde hin, eine Stunde zurück, tönt nach freudigem Herzklopfen (anders als gestern).

Kaum dort angekommen, gelten auf dem ganzen Gebiet der Ausgrabungen Zugangsbeschränkungen – wie bitte? Aha, Corona, schottischer Verwaltungsbetrieb… Tickets sind ausschliesslich über’s Internet erhältlich, und die wenigen verfügbaren Eintritte seit Tagen ausgebucht: Ein grosses Touristenschiff sei gestern in Kirkwall gelandet!.. Nun denn, muss rasch auf die Toilette – und gelange von dort aus um das Museumsgebäude herum zu den Grabungen. (Bin einmal mehr froh, zuvor nicht genau nachgeschaut, sondern mich unbekümmert direkt hinbegeben zu haben. Wäre ich ansonsten wie die Segler schulterzuckend an Bord hocken geblieben? Nun aber bin ich hier, und es gibt immer einen Weg.)

Zurück in Stromness verabschiede ich mich von den Seglern am Pier, bedanke mich für die Tipps (inhaltlich unbrauchbar aber dennoch ausserordentlich wichtig, gerade weil ich deutlich wie nie erkenne, dass ich tatsächlich völlig anders unterwegs bin und meine eigene Geschichte schreiben muss) und zische durch Orkney’s Inselwelt hindurch Richtung Pentland Firth.

By the way ‘entdecke’ ich auf einer zu passierenden Insel ein möglicherweise strategisches Öllager mit unzähligen riesengrossen Tanks, die hier in aller Abgeschiedenheit eine Reserve für turbulente Zeiten bilden – wenn Konflikte ausbrechen oder irgendjemand ausserhalb Europas den Ölhahn zudreht? Schon spannend, was ich vom Wasser aus alles zu sehen bekomme, wo wohl nur ein Satellit noch hinschauen kann.

Ich bin so rasch in Wick, dass ich fast nicht bemerkt habe, dass unter mir das Meer auch ganz anders, betörend harmlos sein kann – aber ich habe (einmal mehr) erst im Hafen von Wick erfahren, dass auch hier eine Einfahrt manchmal unmöglich ist, wenn die Winde und Strömungen nicht zusammenpassen… Ich hätte eine Alternative bereit haben sollen, sagt man mir. Hatte ich nicht.

Aber der Hafenmeister und alle denen ich begegne (zwei Kapitäne von ultramodernen Katamaranen, die als Versorgungsschiffe für die Windfarmen eingesetzt werden, kommen nach Feierabend an den Steg und begrüssen mich), sind keineswegs besserwisserisch, sondern ausgesprochen zuvorkommend. Und neugierig. Und so wechselt ein Wort das andere, und ich erfahre viel, lerne viel, sehr viel! – Schliesslich lädt mich ein Hafenmitarbeiter ein, mit seinem Betriebsauto zur nächsten Tankstelle zu fahren, damit ich einfacher zu meinem Benzin komme. Und die Duschen kann ich auch benutzen. Das liegt in der Kompetenz des Hafenmeisters, sagt er mit einem verschmitzten Lächeln, nicht bei denen in Edinburgh. – Ich bin aufgenommen in den Highlands, so fein!

Mir gegenüber ankert ein älterer, rundlicher Herr mit zerzaustem Haar; wir treffen uns in der Dusche und auch wir kommen bald ins Gespräch: Er ist mit seinem kleinen Segelboot unterwegs, um Great Britain herum – einer mehr – und erfüllt sich damit einen lang gehegten Lebenstraum. Und weil er knapp bei Kasse ist, hat er eine Stiftung gegründet und sammelt fortlaufend Spenden. Briten sind offensichtlich spendierfreudig – er ist sehr aktiv auf Social-Media-Kanälen und bietet die passenden Stories. Und geniesst sein Dasein. Ein wahrhafter Segler eben.

Abends gehen wir zusammen essen, in einen Kettenbetrieb, der mit Musik aus der Konserve, viel Bier (und günstigen Mahlzeiten) ein retro-modernes Lebensgefühl vermittelt. Mir ist’s recht so, sehe endlich etwas tiefer in die Volksseele. Und mit dem Bier beginnen sich die reinen Frauen- und die reinen Männertische aufzulösen resp. zu verbinden, und die Hygiene-Masken werden plötzlich auch nicht mehr getragen zwischen Bar und Tisch… Aha, denke ich, die Viren finden auch in Schottland ihren Weg. Und alle prosten sich zu.