
Dank den detaillierten Informationen des Hafenmeisters von Amble terminiere ich meine Ausfahrt so, dass ich bei einem hohen Wasserstand im anvisierten Anstruther in Schottland eintreffe. Denn hier erwartet mich ein Tidenhub von bis zu acht Meter! Und auch hier ist bei Ebbe keine Einfahrt in den Hafen möglich – die Fischer und sonstigen Wasserratten achten also peinlichst genau auf die entsprechenden Tabellen. Selbst die Rettungsorganisation hat sich bei ihrem Lifeboat etwas Besonderes einfallen lassen: Einen speziellen dreifach-Kiel, der die Propeller der Motoren schützend umschliesst und verhindert, dass das Boot bei Ebbe am Boden kratzt. Im Gegenteil: Es kann bei praktisch jedem Wasserstand operieren – und wird dafür von einem Truck ins Wasser gelassen, resp. wieder ans Trockene geholt.
Was mich aber weit mehr überrascht sind die Menschen, die hier in Anstruther selbst bei Arbeiten an den Booten im Hafen oder beim Spazieren durch das Städtchen Hygiene-Masken tragen. Während in England bezüglich Corona alles ‘frei’ ist, macht Schottland auf Drama und pocht auf unzählige Massnahmen. Und die Menschen machen mit.
Der Sinn für diese Massnahmen erschliesst sich einmal mehr nicht, aber die Erklärung ist simpel: Nicola Sturgeon, die schottische Regierungschefin (und Chefin der wählerstärksten Partei SNP), will unbedingt weg von Great Britain, zurück zur EU, und tut darum partout immer genau das Gegenteil dessen, was Boris Johnson tut. Oder sie tut aus Prinzip immer genau das Gegenteil dessen, was Boris Johnson tut, und will darum back to EU… Natürlich geht es primär um die Öleinnahmen vor der Küste Schottlands. Und um Fische. Mit diesen beiden Schlüsselbereichen liesse sich die Autonomie erkaufen.
Ich weiss nicht, was am Anfang dieses Hickhacks stand; wie ich herausgehört habe werden alte Geschichten im Neuzeitmodus sehr originell bewirtschaftet. Es spielt darum auch keine Rolle, worum es im Einzelnen geht. Fakt ist: Sagt Johnson A, sagt Sturgeon B – Hauptsache mit Volldampf in die andere Richtung. Sagt Johnson zu Corona wie gesehen ‘free’, antwortet Sturgeon mit ‘protect more’! Und da Frau Strugeon eine begnadete Wahlkämpferin ist, kann sie die Menschen hier leicht für sich und ihre Anliegen einnehmen. In Schottland lacht man über Boris Johnson, in England lacht man über Nicola Sturgeon. So haben alle was zum Lachen.
Ist also Amble, wo ich heute Morgen losgefahren bin, an der sehr langen Leine von London, lebt Anstruther im direkten Einflussbereich von Edinburgh. No way to escape. – Ich fahre von einer Seite der Bay auf die andere, und lande in einer komplett anderen Welt. Das ist faszinierend!
Weniger angenehm ist, dass der Hafenmeister von Anstruther nirgends aufzufinden ist. Alles geschlossen, keine Toiletten, keine Dusche, und vor allem kein ‘schwimmender’ Steg zum Anlegen. Also arrangiere ich mich mit den Fischern und den Leuten vom Seenotrettungsdienst, allesamt sehr freundlich (und erstaunt, dass ich mit einem Schlauchboot hierhergekommen bin), und hänge meine ArgoFram an die Quaimauer – muss aber von nun an höllisch aufpassen, dass sie weder in den Seilen hängt noch am Hafengrund aufliegt. Aber ich habe Glück, verstehe was mit sinkendem Pegelstand auf mich zukommt, und kombiniere meine Seile mit denen anderer Boote, löse die ArgoFram also wieder von der Hafenmauer und kann sie so weitgehend sich selbst überlassen. Kann also ruhig schlafen.
Zu meiner grössten Überraschung empfehlen mir am Abend alle (!), die ich nach einem ortstypischen und guten Restaurant frage, die Anstruther Fish Bar – vermutlich der Stolz der Gemeinde wegen ihren weit herum gelobten und immer wieder ausgezeichneten Fish’n’chips… Also versuche ich einen Platz zu ergattern, und schaffe es tatsächlich: Die Menschen, die in einer langer Schlange anstehen, wollen nämlich gar nicht im Restaurant essen (zu gefährlich?), sondern lediglich die bestellten Fische abholen. Dicht gedrängt stehen sie vor dem Eingang, unterhalten sich bestens, natürlich maskiert. Drinnen aber wird ruhig und eins nach dem anderen erledigt, keine Hektik. So nehme ich Platz, werde im kuriosen schottisch-englischen Dialekt bedient, und schaue mir das Take-away-Schauspiel aus ganz anderer Warte an. Dann bin ich dran; selbst am Tisch wird der Fish in der Kartonschachtel serviert, aber was für einer – zart und fein, eher gedünstet statt wie in Whitby triefend im Beer-Batter, mit sorgfältig frittierten Kartoffelschnipseln und einem Salätchen drapiert – sowie zwei auf Porzellan servierten Toast-Brotscheiben mit Butter! Das müsse so sein; kein Fish’n’Chips ohne Toast! Und zum Trinken gibt’s den Earl Grey mit einem separaten Kännchen Milch, wie selbstverständlich. Was für ein z’Nacht; alles so knorrig, alles so schräg, alles so wunderfein, herrlich.