Die Ausfahrt von Texel verläuft irritierend – ich scheine förmlich im Wasser zu kleben! Ein Benzinverbrauch wie mit 50 km/h, aber mehr als 40 läuft die ArgoFram nicht. Es ist richtiggehend spürbar, dass sie sich gegen die aufkommende Flut abmüht, so sehr drücken die Wassermassen gegen die Meerenge zwischen den Nordseeinseln. Aber ich will hinaus. Und erlebe genau das Gegenteil dessen, was ich vor ein paar Tagen bei der Ausfahrt aus der Elbe erlebt habe, als ich mit dem abfliessenden Wasser bei Ebbe in die Nordsee eingefahren bin; damals ist die ArgoFram richtiggehend geflogen.

Die Überfahrt nach England ist insofern kribbelig, als ich noch nie zuvor so weit draussen war: Kein Land mehr im Umkreis von 100 km, mindestens – aber es spielt eh keine Rolle, ob die Motoren fünf oder 50 oder noch mehr Kilometer vom Land entfernt ausfallen (so viel zur immer noch mitschwingenden Angst; dass das Boot selbst bei einem Totalausfall der Motoren schwimmt und bei einem Stillstand auf der Wasseroberfläche einfach mitschaukelt, dass die Situation also nicht besonders dramatisch wäre, das habe ich schon begriffen, eigentlich). Und tatsächlich streiken die Motoren hin und wieder, sei es weil ein Tank leer ist (ich fahre einen Tank immer maximal leer, bevor ich auf einen anderen wechsle), oder weil beim Ansaugen des Benzins etwas nicht stimmt und irgendein Vakuum entsteht, was bei der Handpumpe manifest wird (wo einfach nichts mehr durchgeht). Ein seit Beginn ungelöstes Problem… Aber ich habe gelernt damit umzugehen.

In Waddenhaven habe ich noch überlegt, ob ich nicht gleich nach Whitby im nördlichen England fahren soll, etwas über 400 km quer durch die Nordsee. Aber ich habe mich für die ‘Kurzdistanz’ von rund 230 km entschieden, auch weil ich etwas von Englands Ostküste, speziell von Lowestoft, Englands östlichster Stadt, erfahren wollte. – Dort angekommen, parkiere ich gleich beim Royal Yachtclub. Brauche Benzin. Und werde vom Hafenmeister mit der nicht besonders wohlklingenden Frage konfrontiert, ob ich das ‘Paperwork’ (die umfangreichen Einreiseformalitäten) denn schon erledigt hätte?.. – Was ich nicht gewusst habe ist, dass die neuesten Ankündigungen des britischen Premierministers, dass sämtliche Einschränkungen wegen Corona nun aufgehoben seien, wohlklingen, aber nicht ganz zutreffend sind, resp. dem eigenen Publikum gelten: Nur Briten müssen weder Zertifikate noch Masken noch irgendetwas mit sich herumtragen, aber Ausländer resp. Einreisende müssten weiterhin in Quarantäne, selbst PCR-Getestete, selbst Geimpfte! So darf ich am Hafenquai warten, bis ich von vier (!) Beamten der Border Force, die extra für mich aus Felixstowe angereist sind, persönlich willkommen geheissen werde…

Ob ich Schmuggelware an Bord hätte, oder ob sich weitere Personen im Boot befänden, interessiert niemanden; weder mein Pass noch das Boot werden angeschaut. Dafür schlagen wir uns drei Stunden mit der App der britischen Einreisebehörde herum, und mit Apps zur Testerei – nur die Sonne scheint unbeeindruckt und beschert den anwesenden Beamten im formal korrekten T-Shirt einen sehr angenehmen Nachmittag an der frischen Sommerluft.

Mein Fall ist hier, fern ab vom üblichen Reiseverkehr und unmittelbar nach den neusten Coronalockerungen, für alle Neuland. Und es beeindruckt mich sehr, wie die Beamten unabhängig vom Dienstgrad sehr offen, ja kontrovers und ohne Scheu über dieses Virus und seine Auswirkungen (und die Ankündigungspolitik eines Boris Johnson) debattieren. Die ganze Prozedur verläuft nicht nur absolut korrekt, sondern in gewisser Weise humorvoll; die Beamten helfen mir sogar beim Ausfüllen der App-Eingaben (die Sprache ist nicht nur für mich sehr formal und aristo-bürokratisch abgefasst).

Später treffen zwei Holländer im Hafen ein, die mit ihrem Segelboot einen Tag vor mir gestartet sind, und die ebenfalls einen negativen Test bei sich haben (der aber ebenso nicht akzeptiert wird). Sie werden vor dieselbe Frage gestellt wie ich: a) umdrehen und zurückfahren, b) Quarantäne im selbst gewählten Hotel auf eigene Kosten oder c) Quarantäne im Schiff… Schnurstracks und trotz offensichtlicher Übermüdung drehen sie um (wobei niemand weiss, wohin sie wirklich fahren) – ich dagegen ziehe die Quarantäne auf meiner ArgoFram vor. Denn meine Richtung ist klar: Ich will weiter, nördlich und um die Inseln rum!

Die erste Nacht verbringe ich noch im Royal Yachtclub von Lowestoft, very snobbish. Dann werde ich gebeten, mich in die ‘weltliche’ Marina (der British Sailing Association) im Landesinnern zu begeben. Tu ich gerne, und finde dort mein Plätzchen, und auch offene Ohren für eine zweckdienliche Auslegung der Quarantäneregeln. – Leider funktioniert aber die Testerei nicht wie grossspurig versprochen; die Firma ‘Eurofin’ schafft es weder, meine Tests pünktlich zu liefern, noch sie termingerecht auszuwerten – und die Border Force wagt nicht konkret Stellung zu beziehen zu diesem Problem, schliesslich sei ich ihnen gegenüber verantwortlich für die korrekte Ausführung der Tests, nicht Eurofin… [Nachtrag: So absolvierte ich den Test Day2 an Tag vier, gefolgt vom ‘Test to Release’ am Tag fünf (das Resultat traf aber erst an Tag sieben ein). Abgeschlossen wurde das Prozedere mit dem Test Day8, also lange nachdem ich die Quarantäne hinter mir gelassen habe. Verstehen muss das niemand.]

Nun, diese Quarantäne im Hafen, dieses Gefängnis ohne Mauern, erfordert spezielle Antworten für mein Selbstmanagement: Plötzlich ist alles anders, es gibt keine Routine mehr, von hier auf jetzt erfahre ich eine Zäsur; einige Menschen um mich herum betrachten mich tatsächlich als Gefahr, oder als jemand, dem mit Vorsicht zu begegnen ist. Hysterie ist latent spürbar, auch wenn sie hinter ‘korrekter Haltung’ versteckt bleibt (darum wollte man mich wohl vom Royal Yacht Club weghaben). Darum versuche ich nun auch, meinen neuen legalen Lebensraum, das Boot und den Steg davor, in meinem Sinn zu gestalten und aufzuwerten; darum ist es für mich wichtig, sofort eine eigene, klare Tagesstruktur aufzubauen! Fit bleiben ist das oberste Ziel, den Körper und damit meinen Mindset in Schwung halten ist fast schon überlebenswichtig. Und all das erledigen, was schon lange hätte getan werden sollen (Reinigungsarbeiten am Boot, Blogs fertig schreiben). Und gut essen und viel schlafen, nachschlafen… Es sind vermutlich die vielen, wirklich sehr vielen Gespräche, die ich den vergangenen Wochen Tag für Tag geführt habe, die mich zusätzlich gefordert, ja ausgelaugt haben. Das spüre ich jetzt. So wertvoll diese Kontakte und Begegnungen waren und auch in Zukunft sein werden, sie erfordern Präsenz und kosten Kraft. – Und ja, ich lasse es mir auch nicht nehmen, mir während diesen Quarantänetagen etwas Urlaubsstimmung zu schenken (so wird meine ArgoFram am Abend zum kuscheligen Home-Cinema).

Ich bin bekanntermassen nicht jemand, der sich oder ‘das Universum’ fragt, ob diese Verzögerung im Vorwärtskommen doch auch etwas Gutes haben könnte. Im Gegenteil: Die Situation ist wie sie ist – erst was ich daraus mache, macht die Situation zu einer, die zu meinen Gunsten ausfällt. Es gibt immer etwas zu tun; mich gehen lassen und abwarten, was ‘das Universum’ wohl mit mir vorgehabt haben könnte, wäre angesichts meiner entladenen Batterien desaströs (gewesen). Genauso wie krampfhaft am Unveränderbaren zu rütteln. Also: Ich geniesse das schöne Wetter und mache das Beste draus.

Bei so viel übriger Zeit nutze ich die Gelegenheit, mich auch weiterzubilden. Mit Hilfe von verschiedenen Internet-Kursen über die Seefahrt verstehe ich endlich mehr über den Wind und seinen Einfluss auf die Oberwasserbeschaffenheit (notabene erst nachdem ich ihre Ausprägung in der Ost- und Nordsee schon kennengelernt habe) und begreife endlich, was der Unterschied zwischen ‘Wellen’ und ‘Dünung’ ist… Hier in der Nordsee folgen sich die Wellen mit fünf bis sieben Sekunden Abstand, sind deutlich ‘weicher’ als diejenigen in der Ostsee, kommen dafür mit spürbar grösserer Wucht (in der Ostsee beträgt das Intervall zwei bis drei Sekunden und die Wellen sind eher ‘scharf’ und zackenartig). Die Dünung, die ich erst in der Nordsee so deutlich zu spüren bekommen habe, begegnet mir mit langen unterschwelligen Erhebungen im Wasser. In der Konsequenz heisst das: Selbst doppelt so hohe Wellen wie in der Ostsee sind in der Nordsee ‘problemlos’ befahrbar. Seit dieser Erkenntnis treibt der Blick auf die Wellenprognose meinen Puls nicht mehr in exorbitante Höhen. Auch das ganze komplexe Zusammenspiel mit Wind und Strömung (Ebbe-Flut) wird für mich erst jetzt langsam fassbar; erst nach nochmaligem Beschäftigen fallen die Zwanzgerli und ich beginne zu verstehen, wie ich die Wind- und Wetterkarten deuten muss. Wird auch Zeit.

Neben den Menschen hier im Hafen von Lowestoft, für die ich mit meinem unklaren Status eine potenzielle Gefahr darstelle, gibt es aber auch jene Menschen, die das ganze Corona-Getue der Politik als Theater abtun, und demonstrativ opponieren. Darum gibt es während dieser misslichen Quarantäne auch extrem schöne Momente: Ich bekomme auffallend häufig Besuch von Personen, die weiss-nicht-wie von meinem Schicksal oder Projekt oder Dasein erfahren haben und mich besuchen kommen (ich darf zwar nicht – oder nur unter bestimmten medizinischen Voraussetzungen – vom Pier an Land, aber es ist überhaupt nicht verboten, vom Land zu mir auf den Pier oder sogar aufs Boot zu kommen!), und entweder mit mir sprechen oder sich die ArgoFram ansehen wollen. Sogar ein Youtube-Blogger ist vorbeigekommen und hat einen Beitrag gedreht (https://www.youtube.com/watch?v=dKdyOFphR2I) – und versorgt mich freundlicherweise mit frischen Früchten und Lebensmitteln! Die grösste Überraschung gelingt allerdings Johanna, die mir – um mich vom fernen Basel her aufzuheitern – am Sonntagnachmittag einen stilvollen Afternoon-Tea zum Bootssteg anliefern lässt! Das hat gleich doppelt geschmeckt.

Nun, mein Leben in relativer (lokaler) Berühmtheit hat auch Vorteile: Die Verantwortlichen am Hafen haben ein Einsehen, dass eine Quarantäne auf einem Schlauchboot der Hygiene nicht unbedingt förderlich ist – also lässt man mich unter der Hand eine Dusche nehmen oder Kleider waschen, wenn der Hafenbetrieb eingestellt ist und niemand hinschaut. Auf ebenso kryptische Weise gelingt es mir, während der Quarantäne weitere Benzinkanister, eine neue Handpumpe, 360 Liter Benzin und frische Lebensmittel zu beschaffen. Ganz legal. – Isolation macht findig 😉

Am Tag meiner vorzeitigen ‘Befreiung’ fuhr ich nicht gleich los – das war wellenbedingt gar nicht möglich. Stattdessen bin ich durch Lowestoft geschlendert und habe gesehen, wie das Leben hier wirklich geht. Und ich kann Euch sagen, wenn ganz England so funktioniert wie dieser Flecken hier, dann gute Nacht: Die Infrastruktur ist mehr als angeschlagen, sie ist am Boden; Häuser, ja ganze Quartiere zerfallen, Strassen werden kaum unterhalten, und wenn gerade mal etwas instand gestellt wird, werkeln Handwerker ohne passendes Werkzeug, flicken rudimentär Flicken aus, halten einen temporären schlechten Zustand weiterhin temporär schlecht, reinigen Fassaden mit Farbe, malen also über den maroden Untergrund, anstatt zu sanieren. Was sich in permanent bröckelndem Hochglanz bemerkbar macht – just Trash.

In Lowestoft’s Innenstadt ist nahezu jedes zweite Ladengeschäft leerstehend. Dafür gibt es so viele Handy-Reparatur-Geschäfte wie bei uns Videoverleihgeschäfte einst oder Kebab-Buden heute. Die können nicht rentieren. Fragt sich also, ob sie zu demselben Zweck gegründet worden sind… Und dann die vielen Menschen mit Zeitüberschuss, die mir hier am Laufmeter begegnen: Übergewichtig oder krankhaft dünn, wobei übergewichtig massiv übervertreten und ausgesprochen wohlwollend formuliert ist – bin ich der Einzige, der diese aufgedunsenen Körper als Sex-Killer empfindet? Ganz offensichtlich, denn diejenigen, denen ich begegne, nehmen’s drollig, finden sich selbst – verziert mit Tattoos oder Schminke oder Accessoires oder all dem zusammen – ganz lustig. Und die Kinderlein purzeln ganz offensichtlich, trotzdem. Kinder, die in der Folge schon sehr jung in Sachen Fülle den Eltern in Nichts nachstehen. Eine Zeitbombe (eine Tatsächliche, nicht wie dieses Virus; das Virus schlachtet’s nur aus).

Und ich frage mich: England ist doch eine erfolgreiche Sportnation, eine die es versteht, über den Sport auch Migranten in die Gesellschaft einzubinden. – Wo aber ist dieser Spirit hier in Lowestoft? Wo sind diese selbstdisziplinierten Emporkömmlinge, die sich vom Trash nicht ausbremsen lassen; wo sind hier die Bewegungsfreudigen, die mit Zuversicht Gas geben?

Zusammengefasst bin ich fassungslos, wie heruntergekommen dieser Flecken hier ist. – Nein, ich bin nicht negativ eingestellt wegen der aufoktroyierten Wartezeit. Ich bin einfach baff darüber, wie sehr sich eine Gegend und die Menschen darin vernachlässigen. Klar, es wird auch die anderen geben, die hart arbeiten und dieses Malaise ausgleichen. Nur gesehen habe ich sie nicht, weder direkt auf der Strasse noch indirekt am Zustand der Gebäude und der Infrastruktur. Andererseits darf ich sagen: Kaum eine andere Gemeinschaft scheint derart tolerant zu sein, kann den anderen nebenan sein lassen, wie er oder sie ist, in aller Unzulänglichkeit. (Oder ist diese ausgeprägte Toleranz bloss ein anderes Wording um zu sagen, man kümmert sich nicht im geringsten darum, was andere tun, was der Nachbar tut?) – Fazit: Unterschiedlicher können meine Erlebnisse auf der Insel Bornholm zu meinen Begegnungen hier in Lowestoft nicht sein! Beides empfinde ich als extrem, die fürsorgliche Kontrolle im dänischen Bornholm genau so wie diese unbezogene Toleranz in Lowestoft.