Wenn ich schon mal in der Gegend bin, dann muss ich nach Haithabu! – Ihr kennt Haithabu nicht? Ohoh, dann helfe ich etwas nach: Hier entstand im 8. Jahrhundert einer der wichtigsten Fernhandelszentren des damaligen Europas – hier fanden die ‘Wikinger’ nach ihren Raub- und Handelsfahrten zusammen. Sie tauschten resp. verkauften Waren (Quecksilber von Afghanistan, Walrosszahn aus dem Weissen Meer, Gewürze und Öle/Parfüm aus dem Orient) und Sklaven. Diese stammten von Beutezügen nach Irland, Schottland und England, die zusammen mit Fellen und Rohmetallen gehandelt resp. verkauft wurden. Manche sagen, Haithabu sei DAS Zentrum der frühmittelalterlichen Welt gewesen, wo nach dem Zusammenfall der Imperien im Mittelmeerraum ein ‘stabilisierendes’ Gegengewicht gefunden wurde, und wo ganz offensichtlich auch das Kunst- und Schmuckhandwerk blühte. – Haithabu als frühmittelalterliches Rom?
Nun, die Völkerwanderung hat in Europa der damaligen Zeit so ziemlich alles durcheinandergewirbelt. Am flexibelsten haben die Nordvölker darauf reagiert, die mit ihren Kenntnissen der Seefahrt (und ihrem Mut, auch ausserhalb des Mittelmeeres auf Entdeckungsreisen zu gehen) die damalige Welt neu verbunden und verknüpft haben. Die ‘Wikinger’ besiedelten Grönland, Island und weite Landstriche in der Ostsee; sie zogen im Westen aus bis nach Neufundland/Amerika, im Osten bis zum Weissen Meer und der Wolga entlang bis ins Kaspische Meer, sowie durch das Schwarze Meer bis zum Vorderen Orient/Byzanz. Aber es war ein buntes Völkergemisch (wie die unterschiedlichsten Grabanlagen in Haithabu zeigen), das sich hier niederliess, ohne verbindende oder gar gemeinsame Strategie, dezentral geführt und in Stämmen organisiert. Und natürlich auf den eigenen Vorteil ausgerichtet: Überleben, so gut es eben ging, mit sehr eigenwilligen Moral- und Sexualvorstellungen. Im ‘Einklang mit der Natur’ zu leben war hart, erforderte Mut und Durchsetzungsvermögen. Manneskraft konnte, ja musste im Kampf und im Bett bewiesen werden. Beutezüge halfen, dem Ansehen wie der Güterversorgung. Auch Frauen konnten mit auf Beutezug gehen; wer rudern konnte und kämpfen wollte war mit dabei. Frauen konnten auch Güter besitzen und Geschäfte tätigen; Frauen konnten Männer ‘zur Probe’ heiraten – war der Sex mit dem Auserwählten nicht befriedigend, konnten sie sich mit genau diesem Argument scheiden lassen. Weibliche Sklaven teilten Haus und Bett, konnten jedoch keine Güter erwerben. Sie wurden nach dem Tod ihres Gebieters mit ihm in den Tod geschickt und gemeinsam bestattet; im Jenseits sollte sie ihm weiter zu Diensten sein – und die Ehefrau/Witwe übernahm das Gut. (Ein ideales Betätigungsgebiet für christliche Missionare, die in Haithabu – dem Hof der Heiden – ein erfolgversprechendes Betätigungsfeld vorfanden. Um 850 erbauten sie in Haithabu die erste Kirche im Norden Europas. Jesus war aber lange Zeit nur ein Gott unter mehreren; immerhin versprach er auch jenen Ewiges Leben, die nichts hatten. Das zog.)
Ich fahre mit dem Velo zum Bahnhof von Rendsburg, mit der Bahn nach Schleswig, und mit demselben Velo weiter zum Danewerk, einem dutzende Kilometer langen Wall von West nach Ost quer durch jene Halbinsel, worauf in späteren Jahrhunderten das heutige Dänemark entstand. An einem dieser Wälle wurde Haithabu angelegt, das selbst umringt war von einem Schutzwall. Hier wurde eine Siedlung in Fragmenten rekonstruiert; es stehen bislang sieben Häuser, ein Dock für Schiffe, und es wuseln viele ‘Dorfbewohner’ frühmittelalterlich gekleidet umher und bieten mit ihren handwerklichen Produkten ein eindrückliches Schauspiel, damit die Besucher einen Eindruck erhalten, wie damals gelebt und gearbeitet wurde. Mit diesen Darstellern zu sprechen war sehr aufschlussreich, weil einige von ihnen über Jahre die Ausgrabungen verfolgen und sich intensiv mit der damaligen Zeit auseinandergesetzt haben. Fazit: Haithabu mit Rom zu vergleichen ist kulturhistorisch Unsinn; die Menschen in jener Zeit hatten kaum historisches Bewusstsein, lebten vollends im Jetzt. Schrift und ‘Wissenschaft’ waren nur bruchstückhaft ausgebildet. Wohl gab es Religionsgeschichten/Sagen, aber alles wurde dem Überleben der Gemeinschaft untergeordnet und war auf das Praktische ausgerichtet, ohne philosophischen Anspruch. Auch die Bausubstanz war eher stein- als bronzezeitlich, Holz und Lehm dominierten, Stein oder Ziegel wurden kaum verwendet, gelebt wurde in erweiterten Grossfamilien in mit Stroh bedeckten Langhäusern; Vieh, ein Schlafraum für alle (inkl. Sklaven), eine Küche und Werkplätze fanden sich unter einem Dach.
In Haithabu lebten aus meiner Sicht (Lebensraum innerhalb des halbkreisförmigen Schutzwalls) nur wenige tausend Menschen. Aber es muss über drei Jahrhunderte ein reges Kommen und Gehen geherrscht haben. Denn dieser Ort war ideal gelegen, konnte von der Ostsee wie von der Nordsee je nach Wasserstand mit dem Schiff angefahren werden, war von Naturgewalten geschützt und das Ziel der meisten Schiffsreisen damals. Handel war der Treiber! – Wir wissen: Wer den Handel kontrolliert, kontrolliert Menschen, hat Macht. Im Zentrum Europas begannen neue Mächte ihren Einfluss auszudehnen, zusammen mit der Kirche des einen Gottes. Dieser Marktplatz im Norden war ein Störfaktor; im 11. Jahrhundert wurde Haithabu dem Erdboden gleich gemacht, wurde verbrannt und vergessen. Die ‘Wikinger’ waren von da an Geschichte resp. die Geschichte wurde neu geschrieben; die Zeit der versprengten Stämme im Norden war vorüber. Spuren aus jener Zeit sind im supergut gemachten Museum zu bestaunen, mehr ist da nicht. Haithabu lebt in den Köpfen.
Nach dem Besuch fahre ich mit dem Velo zurück zum Bahnhof, weiter mit der Bahn nach Rendsburg, von da zum Hafen; ich starte die ArgoFram und tuckere im Kanal weiter nach Brunsbüttel, der Schleusenstadt an der Elbe, wo der Kanal von der Ostsee in die Nordsee mündet. – Ich bin spät; der Jachthafen ist übervoll, teilweise liegen drei-vier Boote nebeneinander; man kraxelt von Boot zu Boot und erst dann zum Steg. Alle wollen am nächsten Morgen weiter, die einen nach Hamburg, ich zum nächstgelegenen Hafen, der Benzin führt… Ich sitze irgendwie in der Falle, denn weder in Brunsbüttel noch in Cuxhaven gibt es Benzin an einer am Wasser gelegenen Tankstelle, selbst in Bremerhaven gibt es kein Benzin, einzig in Hamburg – aber 80 km hinfahren, um 80 km zurückzufahren, also um zwar volltanken zu können für dem Preis, 160 Liter dafür zu verbrennen, das mach ich nicht.
Ich gehe in Brunsbüttel umher, schaue mir noch die Kleinstadt an, und merke wie sehr ich als Bewohner hier gegängelt würde: Auf Schritt und Tritt wird mir von Plakatwänden oder Objekten im Raum gesagt, wie ich denken und was ich tun soll… Viele Geschäfte stehen leer, sind zu vermieten; die gepflegte Gastronomie (wie sie im Stadtführer gepriesen wird) wird durch Wurst-, Pizza- und Kebab-Buden repräsentiert. Andererseits sollen sich die Liegenschaftspreise in den vergangenen sechs Jahren verdoppelt haben, wie mir eine Hauseigentümerin versicherte, als wir gemeinsam in ein Schaufenster eines Immobilienmaklers schauen und dabei ins Gespräch kommen: Mittelständische Familien ziehen von Hamburg weg, machen Druck auf die Häuserpreise hier. Wobei Corona als Beschleuniger dient; wer immer es vermag, kauft sich ein Haus, um rauszukommen aus der Wohnung der Grossstadt. Fast 100 km Anfahrt zum Arbeitsplatz spielen für einen Deutschen kaum mehr eine Rolle.
Nun ist es spät geworden. Ich ziehe mich aufs Schiff zurück, und erleide eine schreckliche Nacht: Nur wenige Meter neben der Schleuseneinfahrt zu liegen ist keine gute Wahl, aber die einzige Möglichkeit weit und breit – die Vibration der Motoren/Propeller/Seitenruder der grossen Schiffe hinterlassen unter Wasser ihre akustischen Spuren; so muss es sich als Wal oder Fisch anfühlen, wenn über ihnen die Maschinen dröhnen. Obwohl die Kabine der ArgoFram genau deswegen innerseitig isoliert wurde, komme ich kaum zu nötigen Schlaf. Immer wieder habe ich in meiner Kabine den Eindruck, von einem der 250 Meter langen Monster mit Raketenantrieb im Zeitlupentempo überwälzt zu werden. Irgendwie gfürchtig, direkt neben diesen ins Staubecken ein- oder ausfahrenden vibrierenden Brocken zu liegen. – Wieder ein langer Tag, und er scheint nicht zu Ende zu gehen.