Das Meer mag noch so lieblich erscheinen: ein kurzer heftiger Schlag bei schnittiger Fahrt, und schon steht das ganze Projekt auf der Kippe! – Ich habe mir überlegt, was mein Ziel dieser Reise ist. Mein Reise-Ziel ist es, neben dem Kennenlernen von Land und Leuten an der Peripherie Europas, heil und mit der ArgoFram in Marseille anzukommen, den Kreis zu schliessen quasi. Konsequenz: Von allem anderen, von all meinen Wünschen, ob ich dies noch sehen und jene noch besuchen sollte/könnte, habe ich abzulassen, wenn sie dem Ziel nicht förderlich sind. Und mir scheint, auf Lesbos bekomme ich die Hilfe, die mich zum Ziel führt.

Türkei ade! Ich tuckere hinüber nach Lesbos, werde dabei von der griechischen Marine abgefangen und aufgebracht, resp. zum Hafen in Mytilini eskortiert. Dann folgt ein mehrstündiges Prozedere zum Einklarieren (in die EU). Und irgendwie scheinen sie in den drei verschiedenen Ämtern, die ich aufsuchen muss, überfordert zu sein: Ist es möglich, erst recht in diesen Zeiten, dass ein Bootsführer im fernen Finnland aus der EU ausklariert, und einige Wochen später hier im Nordosten Griechenlands wieder ‘hinein’ möchte?

Anders als die finnischen Kollegen vor einem Jahr (nach meiner Umrundung Nordosteuropas und Passage durch Russland), die ‘lediglich’ ein paar smarte Offiziere entsandten um mich wohlwollend zu verhören, pardon: um mit mir ein Gespräch über meine abenteuerliche Reise zu führen, beginnt hier der Beamtenapparat zu rotieren. Und zu schwitzen. – Ich staune, und lerne, wie eine Administration nicht geführt werden sollte. Und denke: ist Griechenland wirklich in der EU angekommen? Aber alles freundlich, ohne ‘Schmiermittel’, einfach etwas umständlich (nicht wie in der Türkei, die mir am Schluss das Ausklarieren doch schwer und teuer gemacht hat). Nach ein paar Stunden habe ich meine Papiere in den Händen – zukünftig muss ich in jedem griechischen Hafen, in dem ich ankomme, unverzüglich die Grenzbehörden und die Hafenpolizei aufsuchen, um in einem mehrseitigen Papier Ein- und Ausfahrt mit Stempel, Datum und Unterschrift des/der Beamten beglaubigen zu lassen. Das gesamte Dokument muss ich dann beim Verlassen der griechischen Gewässer abschliessend vorlegen und quasi neutralisieren … Ich lerne zusätzlich: Griechenland macht ein zur EU paralleles, gesondertes Einklarieren. Und kassiert dafür eine ‘Aufenthalts- und Durchfahrtssteuer’ …

Jedenfalls wird meine ArgoFram sehr bald von Dimitris und seinen Mannen aus dem Wasser geholt (eigentlich schade, denn die Marina in Mytilini ist hervorragend, gut geführt (privat), erfreulich günstig und mit weiteren Serviceleistungen wie Waschmaschinen sowie mit einem superguten Restaurant ausgestattet). Dann geht’s auf einem Anhänger rund eine halbe Stunde zu Dimitris Werkstatt; er analysiert den Schaden und bemerkt, dass die Gear-Box ‘abgeschossen’ wurde. Ein schwimmender, nicht sichtbarer Gegenstand muss den einen Motor so getroffen haben, dass das Getriebe vermurkst wurde. Also muss eine neue Gear-Box her, aber in ganz Griechenland ist keine aufzutreiben. – Marko findet eine über seine Kanäle, neu und original von Suzuki, und die Versicherung übernimmt den Schaden, also wird diese Gear-Box bestellt. Express. Aber sie muss zuerst nach Griechenland (Athen), dann hinaus zu dieser zwar drittgrössten, doch weit abgelegenen Insel. Das kann dauern …

Also stürze ich mich in die hiesige Geschichte – was ich in der Türkei ‘verpasst’ habe (und später mit einer separaten Reise nachholen kann), erweist sich nun als Glücksfall: die Gegend um Mytilini ist seit vielen tausend Jahren besiedelt. Ein riesiges Amphitheater bestätigt, dass die antike Gesellschaft über genügend Wohlstand verfügt haben muss, um Kultur zu schätzen und zu fördern. Bestens bekannt ist Sappho, die in ihren Gedichten von der Liebe zu Frauen sang, und die jungen Frauen der Insel in musischen Fertigkeiten wie Poesie, Musik, Gesang und Tanz unterrichtete. So wurde Mytilini zu einem kulturellen Zentrum, das in der Folge auch Philosophen anzog (Aristoteles, Theophrastos oder Epikur). Dies Im Hinterkopf, und die vielen blutigen Kämpfe um die Vorherrschaft dieser Insel ausblendend, miete ich ein Velo und fahre beschwingt umher – auf dem Weg zur Werkstatt auch immer an einem der grössten Flüchtlingszentren Europas vorbei, wo bis zu 20’000 Gestrandete leben. Wo sie darauf warten, weitergereicht zu werden. Ohne irgendeine Ahnung und offensichtlich auch ohne das geringste Interesse, wo sie sich überhaupt befinden und wie sie sich fit machen könnten für ein erspriessliches Leben in der EU.

Rund um diese eingezäunte, aber grundsätzlich offene Barackenstadt – eine Busstation befindet sich gleich neben dem Eingang – sieht es echt beschissen aus … Ich bekomme Kontakt zu freiwilligen Flüchtlingshelfern, die den Menschen hier beistehen und sie mit Kursen und Bildungsangeboten auf ‘Europa’ vorbereiten möchten, und erlebe hautnah mit, wie ihre (idealisierten) Bilder dieser Migranten gerade an der harten Wirklichkeit zerschellen: Diese haben null Bock auf Garnichts und beschäftigen sich umso mehr mit den sich immer von neuem etablierenden internen Machtstrukturen (Hierarchien, soziale Klassen) in diesem Camp. Ich erfahre von diesen Helfern von im Camp vergewaltigten Frauen und missbrauchten Kindern; die kaum fassbare Schweinerei rund um den Eingang zum Camp zeigt, dass hier eine andere Welt beginnt; die umliegenden Bauern, die ständig beklaut und sogar bedroht werden, klagen und erhalten Polizeischutz … Das alles zerreibt diese Flüchtlingshelfer zwischen Hammer und Amboss.

Dass ich nun blockiert bin, bis die neue Gear-Box eintrifft, hat auch ihr Gutes: ich habe Besuch erhalten. Wir mieten ein Auto, erkunden das übrige Lesbos und eine besondere Attraktion im Nordwesten der Insel: die versteinerten Bäume … Bis zu dem Tag, eine Woche später, als die Gear-Box eintrifft und ich wie wachgerufen werde! – Nun gilt meine Aufmerksamkeit wieder meinem Ziel; die Motoren sind von Dimitris und seinen motivierten Mannen frisch revidiert und ich bin ready to go. Doch diese meine plötzliche Aufbruch-Freude kommt nicht gut an, es gibt einen Bruch. Auweia!