Lena ist tough! – Kaum wieder auf den Beinen (und den Unterarm frisch geschient), möchte sie die Fahrt mit der ArgoFram fortsetzen. Das Wetter resp. die Bedingungen im Asowschen Meer sind hervorragend … los geht’s. Wieder an Mariupol vorbei, um die letzten Sandbänke aus der Bucht von Tangarog herum und hinaus ins offene Meer, geniessen wir einige Stunden im schnellen Galopp, bis sämtliche Instrumente aussteigen! Kein GPS mehr. Keine Orientierung auf den elektronischen Karten, blind bei strahlendem Wetter. Dafür meldet sich eine Stimmt über Funk, und führt uns in die Nähe der Stadt Kertsch auf der Krim, nahe an die Brücke, die die Ukrainer so gern in die Luft sprengen würden. Danach folgt ein endloses Hin-und-Her in dieser Meerenge zwischen unzähligen Frachtern, die auf ihre Abfertigung warten, und Fährschiffen sowie verschiedenen Häfen und Anlegestellen. Bis es heisst, wir sollen ankern und warten.

Es sieht ganz danach aus, als ob wir nicht nach Kertsch hineinkönnen – zum guten Glück habe ich in Asow vollgetankt (so kämen wir auch ohne Anlegen bis nach Anapa im Schwarzen Meer). Ganz offensichtlich versperren Jammer und andere elektronische Kriegsmittel eine freie Sicht auf unsere Satellitenverbindung. Seit meiner praktischen Prüfung habe ich nie mehr manuell meinen Kurs bestimmt … Nun darf ich wieder mit Kompass, Geschwindigkeitsmesser und Stoppuhr navigieren – und mit der Hilfe des Funks, der uns im Gaggo herumführt. Schliesslich heisst es: übernachten draussen vor der Küste, 100 m neben dem Hafen … Wir setzen zwei Anker und hoffen, der Wind dreht nicht auf.

Am nächsten Tag: Das Warten geht weiter. Kann ich irgendwie verstehen – aber warum durchsuchen ‘sie’ uns nicht, damit sich alle entspannen?! – Nicht vergessen: Ich bin gottenfroh, überhaupt bis hierher gekommen zu sein. Allen Warnungen zum Trotz ist die Stimmung hier in Russland nicht so, wie mir meine Freunde in der Heimat weiss machen wollen – gerade weil offiziell kein Krieg ist (sondern eine Spezialoperation, wenn auch eine ziemlich tödliche) gelten die normalen nautischen Regeln und ich habe freie Fahrt. Aber ich spüre auch, dass die verantwortlichen Behördenvertreter einen riesigen Spagat machen zwischen Routine und dieser speziellen Situation.

Wir dümpeln weiter vor der Küste, warten, und immer wenn der Funk knackst, lauschen wir auf und hoffen auf Neuigkeiten. Tatsächlich werden wir um die Mittagszeit wieder zurück ins Asowsche Meer hinausbeordert, zu einem Patrouillenboot. Der Kapitän sieht rasch, dass die ArgoFram nicht gemacht ist für Offshore-Übernachtungen, fragt insbesondere wie es Lena geht, lässt uns ein paar Flaschen Mineralwasser geben und Kondensmilch, und später ein ‘Survival-Kit’ der Armee. Kalorien hätten wir nun genügend.

Ich lege die fast schon zerbrechlich wirkende ArgoFram seitlich an das robuste Küstenschnellboot an. Lena fragt, ob sie die Toilette benutzen kann – und öffnet dadurch wieder alle Schleusen: Die jungen Mannen helfen ihr an Bord, Lena erzählt unsere Geschichte, und bald schon sind wir eingeladen, im Mannschaftsraum Platz zu nehmen … Der Koch krempelt die Ärmel hoch und bereitet uns ein schmackhaftes Menü zu, und wir essen und reden und beantworten Fragen. Die jungen Mannen sind äusserst interessiert, der Kapitän kann nun die Situation persönlich einschätzen – und auf einmal erweitert sich der Gestaltungsraum um ein Vielfaches. So ist Russland, denke ich. Sobald es persönlich wird, sind die Herzen offen. Ich hole noch meine letzte Tafel Schokolade (feine dunkle Koch-Schokolade!) und übergebe sie dem Koch mit der Bitte, der Mannschaft ein Dessert hinzuzaubern und damit zu veredeln. Und komme so auch zu meiner Fotographie: Zwei junge Besatzungsmitglieder, nennen wir sie Evgeny und Sergej, machen mit, kommen zu mir an Bord, verhüllen sich, nehmen noch die Z-Kappe hervor (weil: schliesslich geht es um den Sieg) und posieren.

Es ist schon am Eindämmern … Plötzlich kommt die Fahrfreigabe! Ich überlege nicht sondern fahre gleich los, now or never. Kurze, herzliche Verabschiedung, und schon steure ich von Norden her an dutzenden von Frachtschiffen vorbei auf die riesige Brücke zu. Ein Frachter kommt mir noch entgegen, dann habe ich diese Passage hinter mir – und sehe in der südlichen Bucht vor Kertsch hunderte von Frachtschiffen, wirklich hunderte!, die dieses Nadelöhr passieren wollen.