Wir stehen auf, duschen im Hafengebäude, nehmen ein kleines Frühstück noch an Bord, das Taxi kommt – Michelle steigt ein, steigt wieder aus, ein letzter Kuss, und weg ist sie. – Ob wir uns je wiedersehen?
Ich gehe zurück zu meiner ArgoFram, tanke voll (die Preise sind hier viel niedriger als zuvor in Monaco), packe mein Bündel, bedanke und verabschiede mich beim Hafenmeister, und auf geht’s. Die Wetterprognose kündigt im Raum Marseille für die nächsten Tage schlechtes Wetter an, also beschliesse ich, jetzt gleich direkt bis dorthin zu fahren.
Unterwegs schaue ich zuerst etwas wehmütig zum Rollfeld des Flughafens von Nizza, dann nach vorne, weil sich viele Segelboote vor mir und um mich herum tummeln, und schliesslich begegne ich einem eindrücklichen französischen Küstenkontrollschiff, das sehr stolz zur See fährt und eine fast zwei Meter hohe Welle nach sich zieht. Wahnsinn, wie gehen ‘normale’ Boote damit um, kippen die alle weg? Tatsächlich ändere ich meinen Kurs, fahre zunächst seitlich an dieser Welle entlang, bis ich sie schräg vor mit überspringe. Aber diese Aktion zeigt, dass ich mich nicht mehr so entschlussfreudig wahrnehme – ich bin müde. Muss meine Kräfte einteilen. Schleppe mich quasi nach Marseille … Wind und Wellen nehmen stündlich zu, und ich bin froh, endlich um die letzten Inseln vor dieser Hafenstadt zu kurven und in den alten Hafen im Zentrum Marseilles einzubiegen.
Auch hier laufen Segelboote aus, grosse klassische mit mehreren Masten und vielleicht 20 Seglern und Seglerinnen drauf – ist auch hier eine Regatta im Gang? Tatsächlich, und auch hier ist voll, kein Anlegeplatz (sagt sie Hafenverwaltung). Glaube ich nicht. Fahre im Schritttempo allen Quais entlang – und meine eine Lücke erspäht zu haben. Ich gehe ins Büro dieses Segelvereins, melde mich an, und werde an den hiesigen Hafenmeister weitergeleitet: Régis. Ich muss noch etwas auf ihn warten, er hat zu tun, und ich spüre, wie ich immer mehr in mir zusammenfalle. Und mir trotzdem schon überlege, noch einmal fünf Stunden bis ganz ‘hinüber’ nach Narbonne zu fahren, um dort in den ‘Canal du Midi’ einzusteigen … bevor das Wetter ganz zu macht und eine Überfahrt während den nächsten Tagen verunmöglicht.
Als Régis kommt und mich sieht, sagt er kaum ein Wort, bittet mich Platz zu nehmen und noch etwas Geduld zu haben … Wie sich herausstellt, ist mein Platz reserviert für einen Regatta-Begleiter (der jetzt draussen ist), derweil Régis mir einen anderen Platz bei einem benachbarten Jachtverein sucht – und findet. Und mich umgehend hinbeordert. Da bleiben, sagt er knapp. Und: ich soll morgen früh nochmals kommen, um den Papierkram zu erledigen (und um zu zahlen).
In den nächsten Tagen stellt sich heraus, dass Régis alles unternommen hat, damit ich hier im Hafen bleibe – ich muss schlimm ausgesehen haben, ausgemergelt. Und das Wetter draussen hätte den Rest erledigt, das wollte er verhindern. Recht hatte er! Ich laufe völlig auf dem Zahnfleisch: so atemberaubend schön die vergangenen zwei Wochen waren, so gut wie ich mich auch gefühlt haben mochte, ich brauche unbedingt eine Verschnaufpause!
Seit Anfang Mai bin ich unterwegs, jeden Tag neue Erlebnisse, neue Herausforderungen, neue Entscheidungen. Seit vier Monaten gehe ich nonstop, gebe alles … Und obschon ich unglaubliches zurückbekomme, all das nagt an mir und höhlt auch aus. Rémis zeigt mir die seiner Meinung nach besten Restaurants hier im Zentrum Marseilles; ich soll mal nicht einkaufen und selbst kochen, sondern mich bedienen lassen. Und schlafen. – Er sagt dies so entspannt und eindringlich zugleich, dass ich genau das tue. Und es hilft. Mehr und mehr werde ich mir bewusst, was ich hier soeben vollbracht habe: im Schlauchboot um Europa! Der Kreis ist geschlossen. Es ist geglückt.