Kaum angekommen, schon renne ich Marko die Bude ein…, möchte die ‘neue’ ArgoFram sehen! Denn Marko hat einige Änderungen und Ergänzungen vorgenommen: der Dachrahmen wurde neu geschweisst, dann wurde die ‘Stufe’ im Heck des Rumpfes (die für mehr Speed sorgen sollte) wieder entfernt, resp. aufgefüllt. Und nicht zuletzt erhielt die ArgoFram eine Art verlängerten Rumpf, zumindest wurde im Heck an beiden Seiten Schwimmkörper angefügt und die Wasserlinie verlängert, um damit den Auftrieb zu erhöhen.

Marko ‘operierte’ rein aus seiner Intuition heraus, möchte sein Baby nochmals etwas besser machen; klar hat Tanel das Ganze auch durchgerechnet, aber im Wesentlichen verlassen wir uns alle auf Markos Gespür und seine Erfahrung. Nun werden die Motoren frisch justiert und fixiert – Millimeterarbeit.

Dann geht’s wieder aufs Wasser – uff… Mein Herz rutscht erneut in die Hosen… Dieses merkwürdige Gefühl der letztendlich nur beschränkten Macht, mit ‘Freund Wasser’ umzugehen, muss aktiv bewältigt werden. Marko merkt das und bestätigt, dass das selbst ihm so ergehe; immer zu Saisonbeginn muss auch er sich überwinden, muss die Ostsee wieder von Neuem entdecken und die Elemente auf sich einwirken lassen (zumindest sagt er mir das so). Und ergänzt: wer keine Angst hat, macht bald die dümmsten Fehler.

Diese Angst begleitet einem also so oder so – entscheidend ist, wie man damit umgeht. Ich mag mich dabei an eine Fahrt mit ihm erinnern, im Sommer 2020, als wir einen seiner Sprinter von Finnland zurückholten, der unterwegs, mitten in der Ostsee, den Geist aufgab. Was war passiert? Was machen wir nun?

Immerhin dümpeln wir nahe der Fährschiffrinne, und mit etwas Wind von der falschen Seite schiebt es uns bald in diese Sperrzone hinein (diese Fähren sind schnell unterwegs auf dieser Rennstrecke, ausweichen ist nicht so ihr Ding). Marko bleibt cool, prüft dies und das, bis er den Fehler bei der Batterie findet und mit einem zufällig mitgeführten Booster den Motor wieder zum Laufen bringt.

Entscheidend war nun (für mich als Lehrling), dass er umgehend nach Lösungen suchte, nicht aufgab, auch nicht nach Rückschlägen, als er zunächst auf die Benzinzufuhr tippte und schon mal die Benzinkabel durchtrennte, die Filter ausbliess und noch dies und das probierte. All diese gezielten Massnahmen hielten ihn jedenfalls davon ab, sich der Angst hinzugeben und sich weissnichtwas für Szenarien vorzustellen. Nein, dafür war jetzt ganz und gar keine Zeit.

Das Boot hatte keinen Funk an Bord, auch keine Signal-Fackeln, aber Marko hat immer ein Handy bei sich mit je einer Sim-Karte für das Finnische Netz und das von Estland. Und da hier in der Ostsee immer mal wieder Inseln sind mit Telefonantennen drauf, sollte die eine oder andere Seite immer erreichbar sein… Aber telefonieren, um sich abschleppen zu lassen, das wollte er auch nicht – Marko hat ein Ego!

Marko ist ausgezeichnet vernetzt; dass alle über ihn reden könnten, wenn er abgeschleppt werden müsse, passt ihm gar nicht. Also wird weiter gepröbelt und experimentiert, bis der Motor endlich anspringt und wir die Fahrt fortsetzen können – wenn auch nur mit knapp zehn Stundenkilometern (anstatt mit 60 oder 70 km/h normale Gleitgeschwindigkeit, für die dieses Boot ausgelegt ist). Hauptsache selbst und ohne fremde Hilfe an Land gekommen…

Seiner Frau telefoniert er erst, Stunden später, als der Kahn wieder läuft und wir bald ankommen. Er will sie nicht in Aufregung versetzen – Sie weiss das (no news = good news). Als er sie erreicht sagt er bloss, dass alles gut ist, dass er leider nicht früher telefonieren konnte, und dass es wegen dem blöden Motor nun etwas länger dauert… So geht das!

Zurück zu meinen Testfahrten: täglich gehe ich raus, manchmal begleitet von Marko oder Andi oder auch von Martina; bei schönem Wetter lassen wir es uns nicht nehmen, das Training auch mit dem Vergnügen zu verbinden. – Die ArgoFram läuft gut, vielleicht etwas behäbiger als im vergangenen Jahr, und Marko sinniert über die Wahl der Propeller (Anstellwinkel, Blattgrösse). Denn wir stellen fest, dass die maximale Geschwindigkeit etwas tiefer liegt als im Vorjahr, wie auch die optimale Geschwindigkeit. Aber insgesamt verbraucht die aufgehübschte ArgoFram etwas weniger Sprit, was natürlich viel wichtiger ist. Super ist weiterhin, wie sie sich in die Wellen ‘hineinbeisst’ und extrem spurtreu ist, ohne an Wendigkeit zu verlieren; sie reagiert präzise auf meine Lenkmanöver, lässt sich auch vom Wind nicht beeindrucken, und vermittelt mir ein enormes Mass an Vertrauen. Das werde ich brauchen, denn dieses Jahr geht es in den Norden. Die Barentssee wartet – wer weiss, wie weit ich komme?

Norwegen ist dieses Jahr wieder offen (Corona ist überwunden). Aber die Russen haben ihre Grenzen immer noch geschlossen, Corona wird dort noch immer als unüberwindliche Hürde dargestellt, zumindest offiziell, die eine Einreise per Boot verunmöglicht. Dennoch mache ich ein Update der russischen Meeres- und Wasserstrassenkarten in meinem Bordsystem – vielleicht öffnen sie irgendwann die Grenzen und ich komme dann doch noch hinein/hindurch; wer weiss schon, was im Sommer sein wird?

Erschwerend kommt jetzt aber der Krieg in der Ukraine hinzu. Er belastet die Leute hier in Estland enorm. Viele begegnen mir mit Kopfschütteln; wie kann ich nur an solchen Plänen festhalten?… Auch Marko und die ganze Crew sind sehr skeptisch, ob eine Einfahrt nach Russland eine gute Idee sei. Gerade weil viele meiner Freunde hier auch russische Wurzeln haben oder Familienangehörige auf der anderen Seite der Grenze, oder in der Ukraine; die Esten sind stolz auf ihre Unabhängigkeit, und wie erfolgreich sie sich seit der Loslösung gemausert haben. Aber offenbar sind die Wunden nicht wirklich verheilt; niemand in meinem Umfeld möchte sich die Russen zurückwünschen.

Unsere Diskussionen verlaufen oft sehr emotional; meine bewusst neutrale Haltung, die entweder keinen der Streithähne bevorzugt oder beide Seiten bedient, wird bestenfalls rein intellektuell verstanden, aber oft auch als Rosinenpickerei ausgelegt. Und es wird klar, wie stark uns unsere unterschiedliche Geschichte prägt; die Schweiz im Herzen Europas (und damit meine Sozialisation) musste sich unter ganz anderen Kräften herausbilden, aktuell gegen die Ansprüche der EU verteidigen, wogegen in Estland die unmittelbare Grenze zu Russland (sowie die Angst, dass ‘sie’ zurückkommen) manche Zeitgenossen hier gereizt und widerstandsbereit zugleich macht (und die EU zur erfolgreichen Verteidigung benötigt) – aber wir sind uns einig, dass es wichtig und richtig ist, auf meinem Weg entlang der Peripherie dieses Kontinents die Gemeinsamkeiten, das Verbindende auf beiden Seiten, zu erkunden.

Zudem erfahre ich, dass nur sehr wenige (selbst in Markos Team) es zu Beginn für möglich gehalten haben, dass ich im vergangenen Jahr überhaupt so weit gekommen bin. Nicht wegen dem Boot, das ist top, aber wohl wegen mir, diesem Anfänger. – Recht hatten sie! Hätte ich all das unreflektiert in mich aufgesaugt, was ich während den Vorbereitungen zu hören bekam (wie ‘unmöglich’ mein Vorhaben doch sei, nicht nur wegen Corona, sondern vor allem wegen den nautischen Anforderungen…), ich hätte wohl nie starten können. Aber ich liess mich nicht wirklich beeindrucken, sah immer ‘meinen Stern’, meine Möglichkeiten. Die sind vielleicht gering, aber es war wirklich nicht so schwer, immer nur dann hinaus aufs Meer zu gehen, wenn es mich einlädt dazu. Mit der ArgoFram von Ort zu Ort zu reisen, immer wieder von Neuem ‘unten’ anzufangen, ‘naiv’ Fragen zu stellen, die Gegebenheiten unvoreingenommen zu erkunden und mit einem gewissen Zutrauen zu verarbeiten, abzuwägen und zu entscheiden, hat meine erste Fahrt erst möglich gemacht.

Ich habe mir unter den Beteiligten hier Respekt erworben (was mir spürbar guttut), aber abheben werde ich deswegen nicht. Im Gegenteil: ich muss weiterhin Schritt für Schritt, mit Sorgfalt und Umsicht, vorangehen. Ob mir dies gelingen wird? – Alle sagen mir, dass diese Reise um das Nordkap sehr schwierig werden wird; mit der Barentssee ist nicht zu spassen. Aber sie sichern mir ihre volle Unterstützung zu.

Bis nach Kirkenes möchte ich kommen, alles Weitere ist ein Geschenk. – Let’s go.