
Der erste Blick am Morgen geht hinaus aufs Wasser – die See ist noch immer bewegt… Dann gibt’s Frühstück, und wir legen los, fahren von der Anlegestelle hinüber zur Tankstelle. Und mir fällt auf, erst jetzt, dass die Schweizer Flagge unterm Radar fehlt. Abgebrochen!
Wann das passiert ist? Keine Ahnung. Vermutlich gestern… Und dann fällt Martina auf: Die Rohre, die das Dach tragen, sind an den Schweissnähten gerissen! – Hoppla, das sieht nicht gut aus. Wenn die durchbrechen, fliegt uns das Dach um die Ohren. Zudem verlaufen alle Kabel zur Technik auf dem Dach (Funk, Satellitenverbindung, GPS, Licht) durch diese Rohre…
In Aguilas sei eine sofortige Reparatur wohl nicht möglich, jedenfalls wissen die Hafenmitarbeiter nicht, wen man beiziehen könnte um Aluminium zu schweissen. Aguilas ist schlicht zu klein. Aber in Cartagena, da gibt es bestimmt spezialisierte Unternehmen, die das reparieren könnten, wird uns versichert. – Also, auf nach Cartagena.
Derweil darf auch Marko bei seinem Metaller nachfragen, was da wohl passiert sein könnte und wie er den Schaden beheben würde. Die Fotos sind rasch geschossen und gesendet. In der Zwischenzeit fahren wir hinüber; in etwas mehr als einer Stunde sollten wir in Cartagena sein.
Cartagena ist ein geschichtsträchtiger Ort (dazu komme ich gleich) und auch die wichtigste Militärbasis der spanischen Marine. Zudem hat es hier Werften, die auch Mega-Jachten bauen und reparieren. Da ist richtig was los. – Ich fahre in den Hafen ein und sehe, wie ein Grüppchen Männer gerade eine Jacht ins Wasser lässt. Ich fahre hin, stelle mich vor, spreche direkt auch mein Problem an und erbitte Hilfe, oder zumindest einen Rat. Und ich habe Glück: Einer der Herren entpuppt sich als Mechaniker; er sieht den Punkt, und da er – Zusatzglück – auch Hafenmeister eines der Jachthäfen hier ist, bittet er mich hinüber zu ‘seinem’ Hafen zu fahren… Dort findet er uns einen freien Platz, und das Zusatzzusatzglück lässt uns gerade an jenem Pier anlegen, an dem auch ein Metallbauunternehmer seine Jacht stehen hat. Zusatzzusatzzusatzglück: dieser Unternehmer ist gerade auf seinem Boot, und der Hafenmeister bittet ihn zu uns… Der schaut sich den Schaden an, telefoniert seinem Chefmechaniker, der bald eintrifft, und zusammen hegen sie einen Plan aus, wie mir geholfen werden könnte. Dann fragt er, wie wir bezahlen wollen.
Martina und ich machen einen Stadtrundgang (und ich bringe mein Klappvelo – auch dieses hat gelitten – zwecks Reparatur in den Carrefour; auch dies ein Garantiefall), und als wir zurückkehren, sind schon drei Mann daran, die Rohre zu vermessen und aus Chromstahl (!) einen Rahmen zu schweissen, der die gesamte Dachkonstruktion stützt und mit dem Rumpf der ArgoFram durch Schrauben verbindet.
Auch Marko findet das eine grossartige Idee, werden doch die angerissenen Stützen entlastet, und überweist gleich noch das Geld von Tallinn nach Cartagena. Alle werden glücklich. – Die drei Handwerker arbeiten noch bis in die Dunkelheit hinein, wollen oder müssen heute noch fertig werden, denn morgen Freitag ist Feiertag und damit der Beginn eines verlängerten Wochenendes. Wir haben gut eingekauft und füttern sie kräftig; sie schaffen das Kunststück: Superzusatzglück!
Wir könnten schon morgen weiter, aber was ist denn das für ein ‘Feiertag’? Was wird hier gefeiert, und wie? Wird überhaupt gefeiert, wo doch Corona offiziell alles einschränkt? – Sagen wir so: Morgen beginnt das alljährliche Gedenkfest an jene Zeit, als Karthago vor rund 2’200 Jahren hier die wichtigste Befestigung auf der Iberischen Halbinsel unterhielt, und die Silberbergwerke der Region kontrollierte. Hannibals Vater war eine Art Gouverneur dieser strategisch und wirtschaftlich wichtigen Region – und der junge Hannibal selbst zog im zweiten Punischen Krieg von hier gegen Rom!
Was für ein Unternehmen: Mit erst 26 Jahren formierte er ein Heer aus rund 50’000 Soldaten, 9’000 Reitern und mehr als 30 Elefanten, mit denen er über die Alpen zog. Sein Ziel: Rom zu unterwerfen. Hier schnappte er sich ein paar Tonnen Silber (die er auf seinem Marsch mitführte und sicher sein konnte, dass die Soldaten ihn bewachten wie ihren Augapfel), womit er den Sold und die Kosten dieser ganzen Unternehmung laufend bezahlen konnte. Der gesamte Tross mit Handwerkern, Tierpflegern, Köchen und natürlich den mitziehenden Familien (Frauen und Kinder!) hatte wohl eine Länge von über 60 km – man stelle sich die Logistik vor, die Verpflegung, die Kommunikation…, Mobiltelefone und Aufklärungssatelliten gab es bekanntlich noch nicht.
Nun, die Römer stellten sich zunächst immer wieder in den Weg, verloren aber jede direkte Konfrontation. Hannibal war ein ausgefuchster Stratege und wagte immer wieder ungewöhnliches, was ihn in die Lage versetzte, auch weit grössere Heere zu bezwingen. Doch die Römer waren schlau und einsichtig, gingen ihm mit der Zeit lieber aus dem Weg, um dann die Karthager dort anzugreifen, wo Hannibal nicht sein und die Schlacht nicht dirigieren konnte. Zum Beispiel in Cartagena.
Nun, den Verlauf der Geschichte kennen wir (ansonsten nachlesen!) – hier in Cartagena haben die steten Angriffe der Römer und die Verquickung mit Keltischen Stämmen ihre Spuren hinterlassen, bis heute, wo man die Ereignisse Jahr für Jahr mit grossem Pomp nachspielt. Da gibt es Gruppen, die Römer darstellen, oder eben Karthager, oder wilde Kelten, und musizierend durch die Strassen ziehen und eine Art Karneval feiern. Der Zufall will es: genau jetzt und genau hier ist es wieder so weit, und wir können die Vorbereitungen zu den grossen Veranstaltungen und Theaterspektakeln miterleben – und mit dem Eindunkeln das Treiben in der Altstadt… Corona, soviel wird bald klar, wird für die nächsten 72 Stunden ausgeklammert.
Am nächsten Tag machen wir ‘Pause’, putzen das Boot, baden in der Sonne, geniessen lokale Spezialitäten – und gehen am Abend wieder hinein in die Altstadt und das wilde Treiben. Die Strassen sind voll; viel Volk in den Gassen, in den Bars und Restaurants, auf den Plätzen, die allermeisten verkleidet. Abstandsregeln sind aufgehoben. Masken verbannt.
Martina überragt mit ihrer Körpergrösse alle hier, und wird wohl auch wegen ihrer Figur und den blonden Haaren immer wieder angesprochen… Sie tanzt mit wilden Kelten, flirtet mit römischen Legionären und posiert mit karthagischen Edeldamen. Überall werden wir freundlich begrüsst und sofort aufgenommen – sie öffnet Türen und ermöglicht mir, in ihrem ‘Hinterwasser’ überall mit hineinzuschwimmen und an diesem pulsierenden Leben ungefragt teilzuhaben.
Es ist unglaublich, mitten in dieses herzergreifende und fast schon überbordende Volksfest einzutauchen.