Belfast ist rasch erlebt, leider. Macht mich traurig. Darum weiter zur nächsten Tankstelle; ich muss auch dringend einen Ölwechsel vornehmen – ich bin schon etwas über 100 Stunden Motorlaufzeit unterwegs. Mein erster Ölwechsel seit meinem Start in Tallinn übrigens… Das zeigt eindrücklich, dass ich zwar viele Kilometer zurücklege, aber nicht wirklich viel Zeit auf dem Wasser verbringe! – Sicher und rasch von A nach B, das war meine Vorgabe an Marko; diese Rechnung geht offensichtlich auf.

In Bangor, einige Kilometer ausserhalb Belfasts, wo auch die ‘Energie’ spürbar besser ist und das Leben Horizonte öffnet, finde ich eine Tankstelle gleich am Quai – und ich finde auch eine kleine Bude für Wartungsarbeiten, die diesen Ölwechsel noch am selben Nachmittag vornehmen kann: Boot auswassern, zwei unterschiedliche Öle und je einen Filter in jedem Motor auswechseln (das alles habe ich mitgeführt), einwassern, und es kann weiter gehen… Aber zuvor (resp. während dem der Ölwechsel vorgenommen wird) erkunde ich dieses Bangor, schaue mich um wo ich zu Mittag essen möchte, nehme die Stimmung auf in verschiedenen Bars und Restaurants, und bleibe schliesslich in einem Pub hängen, wo ich mit dem Inhaber gleich ins Gespräch komme.

Dieser Beizer erzählt frisch und frei von seinem Leben und warum er in Bangor sein Glück gefunden hat – mein Gespür deckt sich mit seinen Ausführungen: Belfast ist schaffig, da wird wirklich gearbeitet, aber es bringt die ‘Energie’ nicht raus, bleibt in sich gefangen, deckelt sich irgendwie selbst (es ist bezeichnend, dass das Titanic Museum mit seinem strahlenden Antlitz in einem neu hochgezogenen Quartier ausserhalb der Stadt liegt und – einem Fremdkörper im trögen Belfast gleich – Besucher von weit her anzieht und boomt; aber selbst dieses Quartier ist nicht wirklich lebensfähig, weil es vom Reisbrett direkt in die Landschaft gestellt wurde, und den Menschen keine Möglichkeit gibt sich zu sozialisieren – wie Brasilia, nur in einem deutlich kleineren Massstab). Bangor ist allem Anschein nach ein Ausweichort; wer es sich irgendwie leisten kann zieht hierher, kann ‘atmen’ und gewinnt an Lebensqualität. Wozu auch dieser Beizer mit seiner schnörkellosen Art beiträgt.

Die Mechaniker sind fertig geworden mit dem Ölwechsel, nun reinige ich die ArgoFram an und unter der Wasserlinie, und gemeinsam können wir sie wieder ins Meer absenken. (Die Kosten für den Kran sind unverhältnismässig viel teurer als für die gut geleistete Arbeit der Mechaniker. Der Grund: Ein einziger Kran für all die Betriebe hier…) Da ich überrascht bin, wie flott alles vonstattengeht, muss ich mich neu orientieren und entscheiden, wohin ich als nächstes will. Weit geht’s heute aber nicht mehr – ich höre mich um, welcher Ort nahe der Grenze zur Irischen Republik mir empfohlen wird (was zeigt, wie spontan und Zufälligkeiten annehmend ich tatsächlich unterwegs bin): Kilkeel, wird mir gesagt, sei nice; ein Städtchen, das die grösste Fischereiflotte Nordirlands beheimatet! Da zieht’s mich jetzt hin.

Die Einfahrt in den Hafen von Kilkeel ist tatsächlich atemberaubend, aber nicht wegen irgendwelchen imposanten Häusern oder einer umwerfenden Architektur, auch nicht weil der Hafen so supergross wäre (ganz im Gegenteil, er ist eng und langgezogen, und ich muss sehr achtsam einfahren um nirgends zu touchieren), sondern wegen der Vielzahl und Vielfalt von Fischerbooten: Zunächst, bei der Hafen-Ein- und -Ausfahrt, liegen die grossen Fischerboote, die tagelang draussen sind und auch eine Vorverarbeitung des Fangs vornehmen. Weiter innen im Hafen folgen die mittelgrossen Boote, die von vier bis sechs Mann betrieben werden, und ganz zuhinterst liegen die ‘normalen’ Fischerboote, die heute von einem bis zwei Personen bedient werden (die Technik machts möglich).

Weil kaum Platz vorhanden ist in diesem engen Hafen, und ich ganz nach hinten fahre wo ich nach einem Plätzchen suche, schiebt ein Fischer freundlicherweise sein Boot zur Seite, resp. hängt es bei einem anderen Fischerboot an, damit ich direkten Zugang zum Pier habe. Glückspilz ich.

Am Hafen selbst gibt es eine Art Seemannsheim für die vielen Taglöhner, die sich nach Bedarf anheuern lassen, aber irgendwie ausserhalb jeder Sozialstruktur leben, ohne Familie, ohne Hab und Gut, ohne Aussicht auf irgendwas, die ihre Probleme vergessen wenn sie an der Flasche hängen, oder draussen in der rauen See schuften. Denn ohne sie ginge es nicht; der Überlebenskampf dieser mittelständischen Fischindustrie ist beklemmend. – Rund um den Hafen versammelt sich eine ganze Horde von ergänzenden Handwerks- und Dienstleistungsbetrieben, die von der Fischerei abhängen.

Nordirlands Schwerindustrie ist abgewrackt resp. weitgehend aus abgewandert, die konventionelle Fischerei ist am Serbeln, die Binnenwirtschaft ist ‘übersichtlich’ – Nordirland kämpft sichtlich. Aber niemand murrt.

Boris Johnson kommt gut an hier – er hat sich in den Verhandlungen rund um die Loslösung von der EU erfolgreich auch für Nordirland eingesetzt. Denn, und dies erfahre ich in dieser Klarheit erst aus den Gesprächen mit den Fischern, die natürlichen Fischbestände nehmen so dramatisch ab, und alle wissen das, dass man den noch vorhandenen Rest unter den Anrainern ‘klug’ aufteilen muss: Nordirland minus 5 %, England minus 5 %, Schottland minus 5 %, Frankreich minus 5 % und Republik Irland minus 30 %! Fazit: Johnson hat sich auf der ganzen Linie durchgesetzt, die EU schmollt, und die Nachbarn im Süden wurden von der ‘eigenen’ EU für ihr aufmüpfiges Verhalten während den vergangenen Jahren nicht nur im Stich gelassen, sondern regelrecht abgestraft. (Anmerkung: Die Republik Irland wurde während den Verhandlungen um den Brexit selbst von der ‘eigenen’ EU unter Druck gesetzt und musste sogar ihr sehr erfolgreiches Steuerregime aufgeben – und droht nun die Konzerne, die hier ihr Steuerdomizil oder ihren Europasitz haben [Apple, Microsoft, Google, Facebook, IBM, Xerox, Paypal, ebay etc.] zu verlieren und damit tausende von Arbeitsplätzen – während Johnson ‘seine’ Steuerhoheit durch den Brexit in Sicherheit gebracht hat, damit den Finanzplatz London stärkt und auch Steuerparadiese wie Jersey und Guernsey weiter florieren lässt.)

Wie in jeder Krise gibt es auch hier findige Fischer (schöner Doppelsinn); ich spreche mit einem von ihnen: Er kommt von der Republik Irland und hat weitsichtig, kurz vor dem Brexit, hier in Nordirland eine Firma gegründet, noch unter EU-Recht die Niederlassung erhalten, und betreibt mit Kollegen zwei kleine Fischerboote, möchte sogar bald ein drittes zutun – denn er hat Kunden drüben, in der Republik Irland, und kann sie so weiterhin beliefern. Ideenreichtum und täglich voller Einsatz treiben ihn an; er hat sogar eine Frau gefunden, sie werden bald heiraten. Dann steht sein Kleinunternehmen auf ganz anderen Füssen; er zeigt seinen Stolz, und motiviert damit auch andere.

Während ich so mit den Leuten am Pier rede, fällt mir auf, wie leicht sich auch über heikle Themen sprechen lässt und ich mich fast schon integriert fühle im Lebensalltag dieser Fischer. Das ist Reisen!